Hat Jesus alle Rangordnungen unter uns Menschen aufgehoben? Darf es keine Vorgesetzten mehr geben? Sind die Meister überflüssig geworden? Stellt Jesus das alles in Frage? Ja und Nein!
Hat Jesus alle Rangordnungen unter uns Menschen aufgehoben? Darf es keine Vorgesetzten mehr geben? Sind die Meister überflüssig geworden? Stellt Jesus das alles in Frage? Ja und Nein!
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium am Sonntag, 5. November 2017 (Mt 23,1-12)
Dieses Evangelium stört. In einem Land, in dem Titel und Rang eine so große Rolle spielen, klingen die Worte Jesu wie eine scharfe Kritik. In einer Kirche, in der bei Festreden gerne „die hohe Geistlichkeit“ angesprochen wird, wirkt Jesu Rede wie ein Protest gegen alle weltlichen und geistlichen Titulierungen. „Ihr alle seid Brüder“, sagt Jesus mit Entschiedenheit.
Aber Jesus geht noch weiter. Nicht einmal „Meister“ oder „Vater“ sollen wir uns nennen, denn nur einer ist unser Meister und Lehrer, Jesus Christus, und nur einer ist unser Vater, der im Himmel. Wir alle aber sind Geschwister, sind also einander gleichgestellt, gehören zusammen, sind eine Familie.
Hat Jesus alle Rangordnungen unter uns Menschen aufgehoben? Darf es keine Vorgesetzten mehr geben? Brauchen wir keine Lehrer? Sind die Meister überflüssig geworden? Will Jesus eine vaterlose Gesellschaft? Führt all das zu einer schrecklichen Gleichmacherei? Wir brauchen doch Lehrer, bei denen wir in die Schule gehen können. Was wäre eine Gesellschaft ohne Meister? Wer ein Instrument gut lernen will, sucht einen Meister, dessen Schüler er werden kann. Um ein Handwerk zu lernen, gibt es keinen besseren Weg, als bei einem echten Könner in die Lehre zu gehen. Wir klagen, dass es heute in vielen Bereichen an Meistern fehlt. Und erst recht werden Väter benötigt. Die Psychologen weisen auf die schweren Schäden hin, wenn Kinder und Väter keine gute, aufbauende Beziehung haben. Das gilt natürlich auch für das Mutter-Kind-Verhältnis. Was für ein Segen, wenn diese für das Leben grundlegenden Beziehungen stimmen.
Stellt Jesus das alles in Frage? Ja und Nein! Ja, er hat auf Vieles von dem, was in Kirche und Gesellschaft üblich ist, einen kritischen Blick. Er zeigt, wie hohl oft unsere Wichtigtuerei ist, wie ungerecht und schädlich so manche Formen der gebräuchlichen Rangordnungen sind. Ja, da ist Jesus ein scharfer Kritiker, besonders wenn es sich um religiöse Bereiche handelt, wenn menschliche Eitelkeiten sich unter einem frommen Mäntelchen verstecken. In diesem Sinn kritisiert er die Pharisäer von damals und von heute: „Sie reden nur, tun selbst aber nicht, was sie sagen.“ Schlimmer noch: „Sie schnüren schwere Lasten zusammen und legen sie den Menschen auf die Schultern, wollen selber aber keinen Finger rühren, um die Lasten zu tragen.“ Ja, diese Art von Missbrauch der Autorität kritisiert Jesus.
Und doch ist Jesus nicht einer, der jegliche menschliche Autorität abgelehnt hätte. Schließlich hat er seinen eigenen Jüngern den Auftrag gegeben, andere zu lehren, was er sie gelehrt hat. Und er hat ihnen Autorität verliehen, zu leiten und Verantwortung zu übernehmen. Der Unterschied liegt nur darin, wie Autorität wahrgenommen wird. Alles hängt an einem Wort: Dienen! Wenn Autorität nicht dient, dient sie zu nichts.
Im Gegenteil: Sie wird schädlich, verletzend und zerstörend. Keine Frage: Eltern haben Autorität. Aber sie dient dem Wohl der Kinder, und nicht dazu, sie zu unterdrücken. Politische Autorität ist notwendig, um ein Land zu leiten. Aber wenn sie der Macht und Bereicherung der Amtsinhaber dient, dann ist es schlimmer Missbrauch. Besonders hoch ist der Anspruch Jesu an jene, die im Bereich der Religion eine Leitungsaufgabe haben. Wenn es in der Kirche zugeht wie „in der Welt“, dann dient die Kirche zu nichts. „Bei euch soll es nicht so sein“, sagt Jesus. Das heutige Evangelium stört. Es stört uns alle! Und zeigt den Weg: Vergesst nicht, ihr seid alle Geschwister!
In jener Zeit wandte sich Jesus an das Volk und an seine Jünger und sprach: Die Schriftgelehrten und die Pharisäer haben sich auf den Stuhl des Mose gesetzt. Tut und befolgt also alles, was sie euch sagen, aber richtet euch nicht nach dem, was sie tun; denn sie reden nur, tun selbst aber nicht, was sie sagen. Sie schnüren schwere Lasten zusammen und legen sie den Menschen auf die Schultern, wollen selber aber keinen Finger rühren, um die Lasten zu tragen. Alles, was sie tun, tun sie nur, damit die Menschen es sehen: Sie machen ihre Gebetsriemen breit und die Quasten an ihren Gewändern lang, bei jedem Festmahl möchten sie den Ehrenplatz und in der Synagoge die vordersten Sitze haben, und auf den Straßen und Plätzen lassen sie sich grüßen und von den Leuten Rabbi - Meister - nennen. Ihr aber sollt euch nicht Rabbi nennen lassen; denn nur einer ist euer Meister, ihr alle aber seid Brüder. Auch sollt ihr niemand auf Erden euren Vater nennen; denn nur einer ist euer Vater, der im Himmel. Auch sollt ihr euch nicht Lehrer nennen lassen; denn nur einer ist euer Lehrer, Christus. Der Größte von euch soll euer Diener sein. Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.
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