Wir sind mit der ganzen Welt verbunden und vereinsamen dennoch. Pfingsten ist die große Gegenbewegung.
Wir sind mit der ganzen Welt verbunden und vereinsamen dennoch. Pfingsten ist die große Gegenbewegung.
Gedanken Kardinal Christoph Schönborn zur Leseung am Pfingstsonntag, 20. Mai 2018 (Apg 2,1-11)
Die Bibel liebt die Bilder. Sie spricht nicht in abstrakten Begriffen, sondern in anschaulichen Bildern. Pfingsten ist so ein Bild. Da tut sich Erstaunliches in Jerusalem. Menschen „aus allen Völkern unter dem Himmel“ erleben plötzlich, dass alle Schranken und Grenzen der Sprachen zwischen ihnen wegfallen, und alle einander verstehen können. Was die Menschen damals in Jerusalem tatsächlich erlebten, ist eine große Hoffnung auch für die Welt von heute. Gegenseitiges Verstehen ist möglich. Das Miteinander kann gelingen. Der Heilige Geist öffnet die Herzen und verbindet die Menschen.
Die Bibel kennt auch ein anderes Bild. Es ist das Gegenteil von Pfingsten. Es ist die große Sprachverwirrung, sodass die Menschen sich nicht mehr verständigen können. Dieses Bild ist der Turmbau von Babel. Im ersten Buch der Bibel ist davon die Rede. Die Menschen wollten einen Turm bauen, „dessen Spitze bis zum Himmel reicht“. „Wir wollen uns einen Namen machen“, sagen sie. Damals, so sagt die Bibel, hat Gott ihre Sprache verwirrt, sodass sie einander nicht mehr verstehen konnten. Von Babel komme die Sprachverwirrung unter uns Menschen.
Babel und Pfingsten – zwei Bilder der Bibel. Zwei Erfahrungen, die bis heute weiterwirken. Der Turmbau zu Babel steht für die großspurigen, maßlosen Projekte der Menschen. Babel – das sind die, die alles eigenmächtig selber in die Hand nehmen wollen. Sie halten sich für Götter, für unbesiegbar stark. Aber ihr Ende ist elendiglich.
„Ein Volk, ein Reich, ein Führer“, hieß es vor achtzig Jahren, als Hitler sein „Tausendjähriges Reich“ errichten wollte. Er ist nicht nur kläglich gescheitert, es hat auch für Millionen Menschen Leid, Not und Tod gebracht. Babel, das ist die alte Versuchung des Hochmuts, des Stolzes, der Anmaßung. Es gibt sie im Großen wie im Kleinen, in der Weltpolitik und in den eigenen vier Wänden. Wenn wir nicht mehr miteinander reden, uns nicht mehr verstehen können, dann hat Babel gesiegt. Mir wird angst und bange, wenn ich beobachte, wie wir alle nur mehr auf unsere Handys schauen, und keiner mehr mit dem anderen spricht. Wir haben zwar eine weltweite Technologie, ein www (world wide web), aber untereinander haben wir die Sprache verloren. Wir sind mit der ganzen Welt verbunden und vereinsamen dennoch.
Pfingsten ist die große Gegenbewegung. Was damals in Jerusalem begann, wurde ein weltweiter Aufbruch. Ein anderer Geist begann die Menschen zu erfassen. Der Geist Gottes, der Heilige Geist, öffnet Mund und Ohren. Menschen hören und verstehen einander, trotz unterschiedlicher Sprachen. Denn der Geist Jesu berührt die Herzen. Er überwindet die Schranken und Grenzen, die der Ungeist von Babel gezogen hat.
Ich erlebe die Kirche als dieses weltweite Miteinander, das durch Pfingsten möglich geworden ist. Die Kirche spricht wirklich alle Sprachen. Sie verbindet Menschen über alle Grenzen hinweg. Trotz aller Schwächen und Fehler ist sie ein alle Völker umspannendes Netzwerk der Nächstenliebe. Bis in die ärmsten Orte der Welt reichen ihre Hilfswerke. Oft kritisiert, ist sie dennoch unermüdlich da, um Not zu lindern.
Man sagt zu Recht, Pfingsten sei die Geburtsstunde der Kirche. Denn damals begann sie in Jerusalem ihren Weg hinaus zu allen Völkern der Erde. Heute darf ich der Kirche, der ich so viel verdanke, einfach meinen Dank sagen und meine Liebe ausdrücken.
Als der Pfingsttag gekommen war, befanden sich alle am gleichen Ort. Da kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie waren. Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten; auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder. Alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt und begannen, in fremden Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab. In Jerusalem aber wohnten Juden, fromme Männer aus allen Völkern unter dem Himmel. Als sich das Getöse erhob, strömte die Menge zusammen und war ganz bestürzt; denn jeder hörte sie in seiner Sprache reden. Sie gerieten außer sich vor Staunen und sagten: Sind das nicht alles Galiläer, die hier reden? Wieso kann sie jeder von uns in seiner Muttersprache hören: Parther, Meder und Elamiter, Bewohner von Mesopotamien, Judäa und Kappadozien, von Pontus und der Provinz Asien, von Phrygien und Pamphylien, von Ägypten und dem Gebiet Libyens nach Zyrene hin, auch die Römer, die sich hier aufhalten, Juden und Proselyten, Kreter und Araber, wir hören sie in unseren Sprachen Gottes große Taten verkünden.
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