Wer hört noch zu? Wer spricht noch mit dem anderen? Alle schauen nur auf ihr Handy, kein Blick für die Menschen um uns. Nur durch echtes Zuhören kann der andere sich öffnen und zu reden beginnen.
Wer hört noch zu? Wer spricht noch mit dem anderen? Alle schauen nur auf ihr Handy, kein Blick für die Menschen um uns. Nur durch echtes Zuhören kann der andere sich öffnen und zu reden beginnen.
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium am Sonntag, 9. September 2018 (Mk 7, 31-37)
Taub und stumm, nicht hören und nicht sehen können: Ich kann es mir nicht vorstellen, wie es einem Taubstummen geht. Aber Mitgefühl kann ich haben, Mitleid mit dem Leid eines Menschen, dem zwei so wichtige Zugänge zu den anderen Menschen und zur Welt fehlen. Taub zu sein und nicht sprechen zu können, das isoliert, schneidet einen ab von der Umwelt, macht einsam.
Immer wieder finden sich Menschen, die nicht wegschauen, wenn sie solche Not sehen. Jesus ist gerade am östlichen Ufer des Sees von Galiläa, des Sees Genesareth. Die Dekapolis ist ein heidnisches Gebiet. Jesus hat sich also ins „ungläubige“ Nachbarland gewagt. Er zieht keine strengen Grenzen zwischen „gläubigen“ Juden und „ungläubigen“ Heiden. Ihm geht es immer um den Menschen. Und um sein Herz. Gute Herzen findet er unter allen, egal welcher Religion oder Kultur.
Die Leute, die den Taubstummen zu Jesus bringen, haben sich offenbar von seiner Not berühren lassen. Und so wollen sie, dass Jesus diesen Mann berührt. Haben sie auf ein Wunder gehofft, dass Jesus ihn heilt? Vielleicht waren sie überzeugt, dass diesem armen Menschen schon geholfen ist, wenn Jesus ihn einfach berührt. Diese nur kurz berichtete Szene sagt so viel über das, was wir bewirken können, wenn wir uns von der Not des anderen berühren lassen, und wie heilsam eine liebevolle Berührung sein kann. Am wichtigsten ist das offene Herz. Es kann Wunder bewirken.
Jesus nimmt den Taubstummen beiseite, weg von der Menge. Er will mit dem Mann allein sein, vielleicht um ihn vor den neugierigen Blicken zu schützen. Wir wissen nichts Näheres über den Taubstummen. War er von Geburt an behindert? Oder ist sein Leiden die Folge von traumatischen Erlebnissen, die ihn haben verstummen lassen? Eines ist sicher: Jesus geht ganz behutsam mit ihm um. Er berührt die Organe, die behindert sind, er betet („blickt zum Himmel“) und seufzt, wohl weil ihn die Not dieses Menschen wirklich betroffen macht. Erst dann spricht er das erlösende Wort: „Effata, öffne dich!“ Die Heilung erfolgt unmittelbar. Jesus bringt ihn zurück zu den anderen, seine Ohren hören, und er kann richtig reden.
Bei jeder Taufe eines Kindes wird wiederholt, was Jesus an diesem Taubstummen getan hat: „Öffne dich!“ wird dem Kind gesagt, und Ohren und Mund werden berührt. Aber das allein genügt nicht. „Öffne dich!“ – das bleibt eine lebenslange Aufgabe. In unserer digitalen Welt sind wir von einer neuen Taubstummheit bedroht. Wer hört noch zu? Wer spricht noch mit dem anderen? Alle schauen nur auf ihr Handy, kein Blick für die Menschen um uns. Nur durch echtes Zuhören kann der andere sich öffnen und zu reden beginnen. Jetzt ist Schulbeginn. Hören die Eltern zu, was die Kinder in der Schule erleben? Wie unersetzlich ist es, in der Ehe, der Partnerschaft, der Familie, richtig miteinander zu reden. Wo nicht zugehört wird, wo keine Zeit mehr für das Gespräch ist, da drohen wir zu verstummen, da werden wir taub für den anderen, da werden wir einsam mitten unter den Menschen. Wie sehr brauchen wir da, dass Jesus uns sagt: „Effata, öffne dich!“
In jener Zeit verließ Jesus das Gebiet von Tyrus wieder und kam über Sidon an den See von Galiläa, mitten in das Gebiet der Dekapolis. Da brachte man einen Taubstummen zu Jesus und bat ihn, er möge ihn berühren. Er nahm ihn beiseite, von der Menge weg, legte ihm die Finger in die Ohren und berührte dann die Zunge des Mannes mit Speichel; danach blickte er zum Himmel auf, seufzte und sagte zu dem Taubstummen: Effata!, das heißt: Öffne dich! Sogleich öffneten sich seine Ohren, seine Zunge wurde von ihrer Fessel befreit, und er konnte richtig reden. Jesus verbot ihnen, jemand davon zu erzählen. Doch je mehr er es ihnen verbot, desto mehr machten sie es bekannt. Außer sich vor Staunen sagten sie: Er hat alles gut gemacht; er macht, dass die Tauben hören und die Stummen sprechen.
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