Wie oft würden wir gerechter urteilen und klüger handeln, wenn wir besser sehen können.
Wie oft würden wir gerechter urteilen und klüger handeln, wenn wir besser sehen können.
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium am Sonntag,
28. Oktober 2018 (Mk 10,46-52)
In dieser Reihenfolge sollten wir immer vorgehen, wenn wir etwas tun. Zuerst ist es wichtig, genau hinzuschauen: Was ist die Situation? Wie ist genau die Sachlage? Erst wenn wir uns ein klares Bild gemacht haben, können wir uns ein Urteil bilden, können die richtigen Schlüsse ziehen, um dann auch so zu handeln, dass wir keinen Fehlgriff machen, den wir nachher bitter zu bereuen haben.
Sehen – urteilen – handeln: Das ist die richtige Reihenfolge. Allzu oft halten wir sie nicht ein. Wir handeln unüberlegt, überstürzt, aus dem Gefühl heraus, aus Zorn oder Leidenschaft, und stellen fest, dass wir einen Blödsinn gemacht haben. Oder: Wir urteilen, ohne genau hingeschaut zu haben. Wir lassen uns von Vorurteilen leiten, und werden so der Wirklichkeit nicht gerecht. Vor allem schadet die Oberflächlichkeit dem gerechten Urteil. Wie schnell urteilen wir über Menschen, ohne sie wirklich zu kennen! Wie leichtfertig urteilen wir über Situationen, von denen wir eigentlich kaum eine Ahnung haben. Schlimm wird es, wenn wir dann andere nicht nur falsch beurteilen, sondern sie folglich auch falsch und ungerecht behandeln. So viel Unrecht und Leid geschieht einfach deshalb, weil wir nicht genau hingeschaut haben.
Daran erinnert uns Bartimäus, der Sohn des Timäus. Er ist blind geworden, hat das Augenlicht verloren, und damit seinen Beruf, seinen Lebensunterhalt. Und so wurde er zum Bettler, in erbärmlicher Armut. Als er hört, dass Jesus in der Nähe ist, schreit er seine ganze Not laut hinaus: „Sohn Davids, Jesus, hab Erbarmen mit mir!“ Den Leuten ist das lästig. Sie wollen den Bettler zum Schweigen bringen. Doch der schreit noch lauter. Und Jesus hört ihn und ruft ihn zu sich: „Was soll ich dir tun?“ Die Bitte des Bartimäus bewegt mich immer neu: „Rabbuni, lieber Meister, ich möchte wieder sehen können“.
Wenn wir das Evangelium in Ruhe lesen, es auf uns wirken lassen, hilft es immer, dass wir uns in die handelnden Personen hineinversetzen. So erkenne ich mich zum Beispiel in den Leuten, die den laut schreienden Bartimäus zum Schweigen bringen wollen. Auf die Not anderer hingewiesen zu werden, das kann lästig und störend sein. Ich will davon nichts hören und wissen.
Erkenne ich mich auch in dem Hilferuf des Bartimäus? Sage ich auch zu Jesus: Ich möchte wieder sehen können? Sehe ich, dass ich blind bin, zumindest, dass ich meine blinden Flecken habe? Sehne ich mich danach, mich selber besser sehen zu können, meine Stärken, aber auch meine Schwächen? Wie gut tut es, wenn meine Vorurteile sich auflösen, weil ich genauer hingeschaut habe! Dann kommt es dazu, dass ich einen anderen nicht so leichtfertig verurteile. Dann stelle ich beschämt fest: Der ist ja gar nicht so, wie ich ihn mir vorgestellt habe. Wie oft würden wir gerechter urteilen und klüger handeln, wenn wir besser sehen können.
Ich möchte wieder sehen können! Jesus hat dem Bartimäus das Augenlicht neu geschenkt. Er nennt auch den Grund der Heilung: „Dein Glaube hat dir geholfen.“ Glauben heißt vertrauen. Bartimäus hat, möchte ich fast sagen, blindlings auf Jesus vertraut. Dieses Vertrauen hat ihn sehend gemacht. Misstrauen macht blind. Wir sehen das Gute im Anderen nicht mehr. Der Glaube hilft, andere zu verstehen und ihnen entsprechend zu handeln. Bartimäus, sehend geworden, hat für sein Leben die richtige Entscheidung getroffen: „Er folgte Jesus auf seinem Weg.“
In jener Zeit, als Jesus mit seinen Jüngern und einer großen Menschenmenge Jericho wieder verließ, saß an der Straße ein blinder Bettler, Bartimäus, der Sohn des Timäus. Sobald er hörte, dass es Jesus von Nazaret war, rief er laut: Sohn Davids, Jesus, hab Erbarmen mit mir! Viele wurden ärgerlich und befahlen ihm zu schweigen. Er aber schrie noch viel lauter: Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir! Jesus blieb stehen und sagte: Ruft ihn her! Sie riefen den Blinden und sagten zu ihm: Hab nur Mut, steh auf, er ruft dich. Da warf er seinen Mantel weg, sprang auf und lief auf Jesus zu. Und Jesus fragte ihn: Was soll ich dir tun? Der Blinde antwortete: Rabbuni, ich möchte wieder sehen können. Da sagte Jesus zu ihm: Geh! Dein Glaube hat dir geholfen. Im gleichen Augenblick konnte er wieder sehen, und er folgte Jesus auf seinem Weg.
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