Der "Nächste" ist ... der Arbeiter der MA 48, der unseren Mistkübel leert; die ausländische Putzfrau, der ich im Stiegenhaus begegne; der Papst, dem ich die Hand geben darf, sie alle sind zuerst Mitmenschen... schreibt Kardinal Christoph Schönborn.
Der "Nächste" ist ... der Arbeiter der MA 48, der unseren Mistkübel leert; die ausländische Putzfrau, der ich im Stiegenhaus begegne; der Papst, dem ich die Hand geben darf, sie alle sind zuerst Mitmenschen... schreibt Kardinal Christoph Schönborn.
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium am Sonntag, 4. November 2018 (Mk 12,28b-34)
Welches Gebot ist das erste von allen? Die Frage dieses Schriftgelehrten ist ehrlich gemeint. Immerhin zählten die jüdischen Gelehrten in der Bibel des Alten Testaments nicht weniger als 613 Gebote oder Verbote. In dieser verwirrenden Fülle musste es doch eine Rangordnung geben. Mit dieser Frage kommt der Mann zu Jesus. Er bekommt eine einfache und klare Antwort: Die Liebe zu Gott und zum Nächsten ist das Entscheidende, sie ist das größte Gebot. Die Antwort Jesu findet die volle Zustimmung des jüdischen Gelehrten: Ganz richtig hast du es gesagt, Meister!
Ich glaube, dass auch heute die meisten Menschen mit der Antwort Jesu einverstanden sind: Das größte Gebot ist das Liebesgebot. Auf nichts kommt es im Leben so sehr an wie auf die Liebe. Nach nichts sehnen wir uns so sehr wie nach der Liebe. Geliebt zu sein, sich geliebt zu wissen, das ist das Wichtigste im Leben. Nicht geliebt zu sein, abgelehnt oder gar gehasst werden, das ist am schwersten zu ertragen.
Das Gebot lautet aber nicht: Du sollst geliebt werden, sondern: Du sollst lieben! So sehr wir uns alle, wirklich ausnahmslos alle, wünschen, geliebt zu werden, so schwierig und herausfordernd ist es, zu lieben. Wäre es selbstverständlich, zu lieben, dann bräuchte es kein eigenes Gebot dafür. Aber kann man Liebe befehlen? Ist Liebe ein Gefühl? Gefühle kommen und gehen, man kann ihnen kaum befehlen. Was ist die Liebe? Das ist die ewige Frage! Was heißt es, Gott, den Nächsten und sich selber zu lieben?
Beginnen wir bei der Nächstenliebe: Wer ist mein Nächster? Diese Frage wurde in unserem Land auch in der Politik schon mehrmals gestellt. Bibelfeste Politiker haben darauf hingewiesen, dass im Alten Testament klar gesagt wird, wer der Nächste ist: dein Volksgenosse! Er ist dir ja näher als der Fremde. Daraus schloss man, durchaus logisch: Österreicher zuerst! Es gibt ja eine natürliche Rangordnung: Zuerst musst du dich um deine eigene Familie kümmern, ehe du dich um den Nachbarn sorgst. Ähnlich muss die Politik sich zuerst um das Wohl der eigenen Landsleute kümmern, ehe es um die Anliegen der Nachbarländer oder der Flüchtlinge geht. Das ist durchaus richtig: Die Nächsten sind zuerst die eigenen Leute!
Nun steht freilich gleich danach in der Bibel folgender Satz: „Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selber Fremde in Ägypten gewesen. Ich bin der Herr, euer Gott.“ So zu lesen im 3. Buch Mose, im Buch Levitikus, Kapitel 19. Der Fremde im eigenen Land ist zu lieben wie der Einheimische. Begründung: Erinnere dich, du warst selber ein Fremder, damals in Ägypten, als das jüdische Volk das Joch der Unterdrückung trug.
Wer also ist mein Nächster? Muss ich alle Menschen gleich lieben? Meine Eltern genauso wie irgendeinen Fremden? Meine Freunde ebenso wie meine Feinde? Ist das nicht zu viel verlangt? Wie soll das praktisch lebbar sein? Da hilft ein Blick auf den ersten Teil des Doppelgebotes der Liebe: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft.“ Kann ich das? Schaffe ich das? Gott ganz lieben?
Mir hilft dabei ein ganz einfacher Gedanke: Der Nächste, dem ich begegne, ist ein Mitmensch! Der Arbeiter der MA 48, der unseren Mistkübel leert; die ausländische Putzfrau, der ich im Stiegenhaus begegne; der Papst, dem ich die Hand geben darf, sie alle sind zuerst Mitmenschen. Sie fühlen wie ich Freude und Leid, Schmerz und Trost. Wir sind nicht zuerst Fremde, sondern Menschen. Und wir haben alle eines gemeinsam: Kinder Gottes zu sein. Also von Ihm geliebt zu sein. Er schließt keinen aus. Darum kann ich Gottes- und Nächstenliebe nicht trennen. Gott liebt sogar mich. Deshalb kann ich mich selber lieben, und den Nächsten, und Gott, von ganzem Herzen.
In jener Zeit ging ein Schriftgelehrter zu Jesus hin und fragte ihn: Welches Gebot ist das erste von allen? Jesus antwortete: Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft. Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden. Da sagte der Schriftgelehrte zu ihm: Sehr gut, Meister! Ganz richtig hast du gesagt: Er allein ist der Herr, und es gibt keinen anderen außer ihm, und ihn mit ganzem Herzen, ganzem Verstand und ganzer Kraft zu lieben und den Nächsten zu lieben wie sich selbst, ist weit mehr als alle Brandopfer und anderen Opfer. Jesus sah, dass er mit Verständnis geantwortet hatte, und sagte zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Und keiner wagte mehr, Jesus eine Frage zu stellen.
Mehr über Kardinal Christoph Schönborn
Die "Gedanken zum Evangelium" jeden Sonntag auf "radio klassik Stephansdom" zum Nachhören: