Hingabe: Die arme Witwe hat alles hingegeben, nicht nur ein bisschen Geld. Jesus sieht in ihr ein Vorbild.
(Foto: Alfred Hrdlicka: Kreuzigungsgruppe 2005)
Hingabe: Die arme Witwe hat alles hingegeben, nicht nur ein bisschen Geld. Jesus sieht in ihr ein Vorbild.
(Foto: Alfred Hrdlicka: Kreuzigungsgruppe 2005)
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium am Sonntag, 11. November 2018 (Mk 12,38-44)
Im Mittelpunkt steht eine arme Witwe. Sie ist die Hauptperson des heutigen Evangeliums. Und sie ist zugleich die am wenigsten Beachtete. Wer schaut schon auf eine unscheinbare arme Frau, wenn lauter wichtige Persönlichkeiten auftreten? Mich bewegt diese Frage sehr oft: Sehen wir auch die Unscheinbaren? Nehmen wir die Menschen wahr, die scheinbar nur eine Nebenrolle spielen? Die Bedienerin im Gasthaus? Den Straßenkehrer? Die Putzfrau im Stiegenhaus? Bemerken wir die, die für uns die schweren Arbeiten machen: am Straßenbau, in den vielen Dienstleistungen, ohne die unser Alltag nicht funktionieren würde?
Jesus beobachtet die vielen Menschen, die in den Tempel kommen. Er sitzt gegenüber dem Opferkasten, in den die Tempelbesucher ihre Spenden werfen. Da gibt es „viele Reiche“, die viel geben. Jede spendensammelnde Organisation freut sich über die Großspender. Sie werden besonders geschätzt und beachtet, obwohl es ihnen meistens nicht weh tut, viel zu geben, „denn sie alle haben nur etwas von ihrem Überfluss hergegeben“. Die Kleinspender, die nur ein paar Euro spenden können, sind oft Personen, „die kaum das Nötigste zum Leben haben“, die sich ihre Gaben manchmal vom Mund absparen.
Jesus hat ein Auge für die Kleinen, die vor der Welt Unbedeutenden. Auf sie will er unsere Aufmerksamkeit hinlenken. Deshalb ruft er seine Jünger zu sich. Wo waren sie? Sie haben wohl anderes im Sinn gehabt, scheinbar Wichtigeres. Er weist sie auf diese arme Witwe hin, die eben zwei kleine Münzen in den Opferkasten geworfen hat. Und Jesus zeigt ihnen, dass diese Frau die eigentlich Große unter den vielen Menschen ist, die sie kaum eines Blickes würdigen.
Jesus nimmt seine Jünger in eine Schule des Sehens. Das tat er damals. Das macht er bis heute. Bei ihm können wir lernen, die Welt, die Ereignisse, die Menschen anders zu sehen. Wie anders sehen die Dinge aus, wenn wir anfangen, sie mit den Augen Jesu zu sehen! Da verändert sich die Rangordnung. Da wird plötzlich ganz wichtig, was wir bisher kaum beachtet haben. Da schauen wir nicht mehr zuerst auf die prächtigen Gewänder, die Markenkleidung, und auch nicht auf die, die in der ersten Reihe sitzen. Da beginnen wir, die versteckte Größe von Menschen wahrzunehmen, die uns bisher nie aufgefallen sind.
Was war für Jesus die Größe dieser armen Witwe? Jesus sagt es klar: „Sie hat alles gegeben, was sie besaß, ihren ganzen Lebensunterhalt.“ Im griechischen Originaltext steht hier: „ihr ganzes Leben“. Sie hat mit den zwei kleinen Münzen nicht nur alles gegeben, was sie zum Leben hatte. Jesus sieht hinter dieser Geldspende noch mehr: Er sieht ihre Grundhaltung der Hingabe. Sie gibt ihr Leben, nicht bloß ein bisschen Geld.
So stellt mir das heutige Evangelium die Frage: Was wirfst du in den Opferkasten? Wie ist deine Grundhaltung? Gibst du dich ganz hinein in deinen Dienst? Oder lebst du nach dem Grundsatz „Dienst nach Vorschrift“? Gebe ich immer nur ein bisschen von mir, von meinen Möglichkeiten? Oder lebe ich die großherzige Haltung dieser armen Frau? Bin ich in meiner Lebenseinstellung knausrig und selbstbedacht? Oder lebe ich mit ganzer Hingabe? Unsere Gesellschaft lebt von den Menschen, die sich voll einbringen. Sie leidet unter denen, die nur darauf schauen, wie sie am meisten profitieren können.
Die Szene des heutigen Evangeliums spielt kurz vor dem Zeitpunkt, da Jesus selber sein Leben ganz gegeben hat. Wenige Tage später wurde er gekreuzigt. Er hat alles gegeben, sein ganzes Leben. Die arme Witwe war ihm selber ein Vorbild. Deshalb war sie ihm so wichtig.
In jener Zeit lehrte Jesus eine große Menschenmenge und sagte: Nehmt euch in Acht vor den Schriftgelehrten! Sie gehen gern in langen Gewändern umher, lieben es, wenn man sie auf den Straßen und Plätzen grüßt, und sie wollen in der Synagoge die vordersten Sitze und bei jedem Festmahl die Ehrenplätze haben. Sie bringen die Witwen um ihre Häuser und verrichten in ihrer Scheinheiligkeit lange Gebete. Aber umso härter wird das Urteil sein, das sie erwartet. Als Jesus einmal dem Opferkasten gegenübersaß, sah er zu, wie die Leute Geld in den Kasten warfen. Viele Reiche kamen und gaben viel. Da kam auch eine arme Witwe und warf zwei kleine Münzen hinein. Er rief seine Jünger zu sich und sagte: Amen, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr in den Opferkasten hineingeworfen als alle andern. Denn sie alle haben nur etwas von ihrem Überfluss hergegeben; diese Frau aber, die kaum das Nötigste zum Leben hat, sie hat alles gegeben, was sie besaß, ihren ganzen Lebensunterhalt.
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