Begegnung von Maria und Elisabeth. St. Sophia in Kiew (um 1000)
Begegnung von Maria und Elisabeth. St. Sophia in Kiew (um 1000)
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium am Sonntag, 23. Dezember 2018 (Lk 1,39-45)
Wir wissen wenig über die Zeit ihrer Schwangerschaft. Einiges über den Anfang. Und dann wieder über das Ende, die Geburt ihres Kindes. Eigentlich erstaunlich, denn sie ist wohl die bekannteste Frau der ganzen Menschheitsgeschichte, überall auf Erden geschätzt und geliebt: Maria! Morgen ist der Heilige Abend, die Weihnacht, die Geburt ihres Sohnes Jesus. Berühmt ist Maria, weil sie seine Mutter ist. Die Geburt ihres Kindes ist der Anfang unserer Zeitrechnung. Wir zählen bereits zweitausendundachtzehn Jahre seit seiner Geburt. So ist es eigentlich überraschend, dass wir nicht mehr wissen über die neun Monate, in denen Maria mit ihrem Kind schwanger ging.
Umso wichtiger sind die wenigen Berichte über diese Zeit, die uns überliefert sind. Morgen wird überall auf Erden die Geschichte gelesen, unter welch armen Umständen Maria ihr Kind in einem Stall zur Welt gebracht hat. Heute hören wir, was in der ersten Zeit ihrer Schwangerschaft geschah. Maria weiß, dass sie ein Kind erwartet. Und sie hat gleichzeitig erfahren, dass ihre Verwandte Elisabeth, die lange kinderlos geblieben war, doch noch schwanger geworden ist.
Am Anfang und am Ende ihrer Schwangerschaft sehen wir Maria auf dem Weg, unterwegs, mit den Mühen, die es damals bedeutete zu reisen. Ging sie zu Fuß, was damals die übliche Form des Reisens war? Oder konnte sie sich ein Reittier leisten? Auch das ist nicht wirklich bequem. Beide Male ging die Reise von Nazareth aus, wo Maria mit ihrem Mann Josef zu Hause war. Beide Male war das Ziel Judäa, das Land um Jerusalem. Jetzt, am Beginn ihrer Schwangerschaft, macht sie sich aus eigenem Antrieb freiwillig auf den Weg. Kurz vor der Geburt ihres Kindes macht sie die beschwerliche Reise unfreiwillig, weil sie mit ihrem Mann nach Bethlehem muss, um sich mit ihm für die vom Kaiser angeordnete Volkszählung einzuschreiben.
Heute also sehen wir die junge Frau, die ihr Kind seit kurzem unter dem Herzen trägt, wie sie sich auf den Weg macht nach Ein Karem, dem Ort nahe bei Jerusalem, in dem Elisabeth mit ihrem Mann, dem Priester Zacharias, lebte. Dort kommt es zur Begegnung. Die beiden schwangeren Frauen begrüßen einander. Wir Männer werden nie erleben können, was es heißt, ein Kind unter dem Herzen zu tragen, Mutter zu werden, ein Kind zu bekommen. Es ist das große Geheimnis des Lebens, dem wir alle, ausnahmslos, unser Dasein verdanken.
„Als Elisabeth den Gruß Marias hörte, hüpfte das Kind in ihrem Leib.“ Elisabeth ist bereits im sechsten Monat ihrer Schwangerschaft. Ihr Kind rührt sich schon deutlich spürbar. Sie deutet das als ein besonderes Zeichen: „Als ich deinen Gruß hörte, hüpfte das Kind vor Freude in meinem Leib.“ Elisabeth ahnt, dass ihre jüngere Verwandte Maria ein Geheimnis hütet. Das Kind, mit dem sie schwanger ist, hat eine besondere Bedeutung. Elisabeth nennt Maria „die Mutter meines Herrn“. Wir sind gewohnt, Maria als „Mutter Gottes“ zu bezeichnen, eigentlich eine ganz erstaunliche Aussage. Kann denn Gott eine Mutter haben? Kann eine Mutter Gott gebären? Elisabeth hat schon früh gespürt, dass Marias Kind aus Gott stammt, dass deshalb Maria wirklich einem Kind das Leben schenkt, das selber Gott ist, Gott als Menschenkind.
Die beiden Frauen, die einander umarmen, die beide ihr Kind unter dem Herzen tragen, sind für mich ein starkes Zeichen für das, worum es zu Weihnachten geht: Wir alle verdanken unser Leben jener Frau, die unsere Mutter war und bleibt. Marias Kind, Jesus, dessen Geburt wir morgen feiern, ist Gottes Sohn und Menschenkind zugleich. So nahe ist uns Gott, dass er wie wir als Kind zur Welt kommt.
In diesen Tagen machte sich Maria auf den Weg und eilte in eine Stadt im Bergland von Judäa. Sie ging in das Haus des Zacharias und begrüßte Elisabet. Und es geschah, als Elisabet den Gruß Marias hörte, hüpfte das Kind in ihrem Leib. Da wurde Elisabet vom Heiligen Geist erfüllt und rief mit lauter Stimme: Gesegnet bist du unter den Frauen und gesegnet ist die Frucht deines Leibes. Wer bin ich, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt? Denn siehe, in dem Augenblick, als ich deinen Gruß hörte, hüpfte das Kind vor Freude in meinem Leib. Und selig, die geglaubt hat, dass sich erfüllt, was der Herr ihr sagen ließ.
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