In Jerusalem tat Jesus etwas Überraschendes, eigentlich sogar Anstößiges...
(Foto: Zwölfjähriger Jesus im Tempel, umgeben von den Schriftgelehrten, Josef und Maria. Modernes Halbrelief von Oskar Höfinger, Karnabrunn.)
In Jerusalem tat Jesus etwas Überraschendes, eigentlich sogar Anstößiges...
(Foto: Zwölfjähriger Jesus im Tempel, umgeben von den Schriftgelehrten, Josef und Maria. Modernes Halbrelief von Oskar Höfinger, Karnabrunn.)
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium am Sonntag, 30. Dezember 2018 (Lk 2,41-52)
Hundertfünfunddreißig Kilometer ist es etwa von Nazareth nach Jerusalem. Mit dem Bus oder im Auto keine große Entfernung. Ich bin sie schon öfters im Bus gefahren. Zu Fuß ein Weg von mehreren Tagen. Die Eltern Jesu gingen ihn mindestens einmal im Jahr, um Pessach, das jüdische Osterfest, in Jerusalem im Tempel zu feiern. Als Jesus zwölf Jahre alt geworden war, zog er mit ihnen hinauf nach Jerusalem. War er schon vorher, als er noch kleiner war, mit auf der beschwerlichen Wallfahrt? Wir wissen es nicht, dürfen es aber annehmen.
Mit zwölf Jahren war damals ein Kind an der Schwelle zum Erwachsen-Sein. Bei uns dauert die Jugend heute unvergleichlich viel länger. Und damit auch die Loslösung von zu Hause, das Selbständigwerden. In Jerusalem tat Jesus etwas Überraschendes, eigentlich sogar Anstößiges. Als das Osterfest vorbei ist und die Scharen an Pilgern sich wieder auf den Heimweg machen, bleibt Jesus in Jerusalem, ohne den Eltern ein Wort zu sagen. Er musste bemerkt haben, dass sie bereits mit den anderen Pilgern aufgebrochen waren. Er war alt genug, um zu wissen, dass sie sich Sorgen machen werden, wenn sie merken, dass er nicht mitgekommen ist. War das bei Jesus eine pubertäre Protesthandlung? Wollte er seine jugendliche Selbständigkeit austesten? War es einfach Neugierde und eine gewisse Abenteuerlust?
Ich kann mich ein wenig hineinfühlen in das, was Jesus damals tat, auch wenn ich mich nicht mit ihm vergleichen kann. Ich habe in diesem Alter ein starkes religiöses „Erwachen“ erlebt. Es zog mich hin zur Kirche, ich begann zu ministrieren, und ich fühlte mich wie zu Hause im „Gotteshaus“. So kann ich mir vorstellen, dass es Jesus innerlich hinzog, im Tempel zu sein und zu bleiben. Später wird er den Tempel „das Haus meines Vaters“ nennen. So sehr liebte er diesen Ort, dass er einmal in einem heftigen Zornesausbruch die Händler und Geldwechsler gewaltsam aus dem Tempel zu vertreiben versuchte, ohne nachhaltigen Erfolg. Bis in die letzten Tage seines Lebens hat Jesus den Tempel in Jerusalem leidenschaftlich geliebt. Hier wusste er sich an seinem richtigen Platz. Hier hat er oft und oft zu den Menschen von Gott gesprochen, den er einfach seinen Vater nannte.
„Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?“ Diese überraschende Antwort gibt Jesus seinen Eltern, als sie ihn nach drei Tagen des angstvollen Suchens endlich finden – im Tempel, wo er mitten unter den Lehrern saß, ihnen zuhörte und Fragen stellte. Jesus war seinen Eltern gehorsam. Aber da gab es eine andere Stimme in ihm. Und die Stimme rief ihn, und sie zog ihn hin, hinein in den Tempel, ins Haus Gottes. Es war die Stimme seines Vaters. Sie wird sein ganzes Leben bestimmen. Mehr als seinen Eltern musste er dieser Stimme gehorchen. Für seine Eltern war es schwer, das zu verstehen und anzunehmen. Aber Maria, seine Mutter, hat dieses schmerzliche Erlebnis nie vergessen: Sie „bewahrte all die Worte in ihrem Herzen.“
Heute ist das Fest der Heiligen Familie. Daher wage ich es, zwei Bitten an die Familien zu richten. Die erste: Jedes Kind und jeder junge Mensch hat eine „religiöse Ader“. Sie kann sich entfalten oder verkümmern. Sie ist eine Kostbarkeit, die die Eltern nicht behindern dürfen. Sie braucht aber auch Selbständigkeit, die die Eltern respektieren sollen. Viele junge Menschen machen in der Pubertät eine „religiöse Pause“, gehen nicht mehr zur Kirche. Sie müssen ihren eigenen, persönlichen Weg mit Gott finden. Und Gott geht mit ihnen, darauf dürfen die Eltern vertrauen. Die zweite Bitte: dass Eltern oder Großeltern mit ihren Kindern oder Enkeln gelegentlich einfach so in die Kirche gehen, ins stille Gotteshaus. Früh sollen wir erleben: Hier ist das Haus unseres Vaters. Hier ist es gut sein.
Die Eltern Jesu gingen jedes Jahr zum Paschafest nach Jerusalem. Als er zwölf Jahre alt geworden war, zogen sie wieder hinauf, wie es dem Festbrauch entsprach. Nachdem die Festtage zu Ende waren, machten sie sich auf den Heimweg. Der Knabe Jesus aber blieb in Jerusalem, ohne dass seine Eltern es merkten. Sie meinten, er sei in der Pilgergruppe, und reisten eine Tagesstrecke weit; dann suchten sie ihn bei den Verwandten und Bekannten. Als sie ihn nicht fanden, kehrten sie nach Jerusalem zurück und suchten nach ihm. Da geschah es, nach drei Tagen fanden sie ihn im Tempel; er saß mitten unter den Lehrern, hörte ihnen zu und stellte Fragen. Alle, die ihn hörten, waren erstaunt über sein Verständnis und über seine Antworten. Als seine Eltern ihn sahen, waren sie voll Staunen und seine Mutter sagte zu ihm: Kind, warum hast du uns das angetan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht. Da sagte er zu ihnen: Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört? Doch sie verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen gesagt hatte. Dann kehrte er mit ihnen nach Nazaret zurück und war ihnen gehorsam. Seine Mutter bewahrte all die Worte in ihrem Herzen. Jesus aber wuchs heran und seine Weisheit nahm zu und er fand Gefallen bei Gott und den Menschen.
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