Das Programm Jesu ist schlicht und klar: Die Armen, die Blinden, Gefangenen, Zerschlagenen, das sind nicht nur die anderen, das ist jeder von uns.
Das Programm Jesu ist schlicht und klar: Die Armen, die Blinden, Gefangenen, Zerschlagenen, das sind nicht nur die anderen, das ist jeder von uns.
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium am Sonntag, 27. Jänner 2019 (Lk 1,1-4; 4,14-21)
Am Anfang des Lukasevangeliums stehen zwei Programm-Worte. Zuerst erklärt der Evangelist selber in wenigen Worten, warum er sein Evangelium geschrieben hat. Am Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu berichtet Lukas dann, was Jesu Programm ist, worum es Jesus geht, was er als seinen Auftrag, seine Mission, sieht.
Lukas war von Beruf Arzt. Er gehörte zu den Begleitern des Paulus. Was hat ihn bewogen, ein „Evangelium“, eine Geschichte von Jesus zu schreiben? Wie er selber sagt, haben schon andere es vor ihm unternommen, einen Bericht über das Leben und Wirken Jesu zu verfassen. Lukas wendet sich an einen gewissen Theophilus, der offensichtlich Christ geworden ist. Für ihn will er möglichst genau aufschreiben, was es mit Jesus auf sich hat. Theophilus soll wissen, dass sein Glauben an Jesus auf einem sicheren Fundament steht. Als er gläubig wurde, hat Theophilus sich nicht auf fromme Märchen eingelassen, sondern auf gut bezeugte Ereignisse. Deshalb ist Lukas „allem von Beginn an sorgfältig nachgegangen“, um es „der Reihe nach aufzuschreiben“.
Für mich sind diese programmatischen Worte des Lukas sehr kostbar. Ich hatte selber lange damit zu kämpfen, ob die Geschichten von Jesus wirklich glaubwürdig sind. In den langen Jahren, in denen ich mich mit den Evangelien beschäftige, ist in mir die Überzeugung gewachsen, dass wir dank der vier Evangelien wirklich ein zuverlässiges, getreues Bild von Jesus haben. In ihnen begegnet uns Jesus „wie er leibt und lebt“, lebendig, anschaulich, glaubwürdig.
So ist auch die Szene, die das heutige Evangelium berichtet. Jesus kommt nach Hause, nach Nazareth. Wie er es von Kind an gewohnt war, geht er am Sabbat in die Synagoge. Er liest einen Abschnitt aus der Bibel vor. Hat er ihn bewusst gewählt oder stieß er zufällig auf ihn? Sicher ist, dass Jesus in den Worten des Propheten Jesaja genau beschrieben fand, was er als das Programm seines Lebens sah: „Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt“, sagt er, nachdem er die Lesung beendet hat.
Bis heute bleiben diese Worte Jesu gültig. Bis heute ist an ihnen zu messen, ob wir seinem Programm treu sind, ob wir wirklich Christen sind.
Was sagt Jesus? Zuerst: Er betreibt nicht sein eigenes Geschäft. Er hat sich sein Programm nicht selber ausgedacht. Gottes Geist bewegt ihn. Aber das behaupten doch viele! Woran erkennt man, dass jemand vom Geist Gottes bewegt wird und nicht seinem eigenen Vogel folgt? Jesus hat ein sicheres Kennzeichen des Geistes Gottes genannt: die frohe Botschaft für die Armen! „Selig die arm sind vor Gott“, so wird Jesus später sagen. Zu ihnen weiß sich Jesus gesandt.
Aber wer sind sie? Sicher zuerst die, die auch materiell arm sind. Jesus stellt sie in die Mitte, die Armen, die sonst überall am Rand stehen. Aber er will, dass wir uns alle als vor Gott Arme erkennen. Alle hängen wir von anderen ab. Alle können wir jederzeit in Krankheit, Unglück und Leid geraten. Alle müssen wir sterben, arm vor Gott. Und alle sind wir arm an Liebe und brauchen sie so sehr.
Das Programm Jesu ist schlicht und klar: Die Armen, die Blinden, Gefangenen, Zerschlagenen, das sind nicht nur die anderen, das ist jeder von uns. Wir alle haben unsere blinden Flecken, unsere Gefangenheiten und Wunden. Das Programm Jesu lädt uns deshalb ein, im Nächsten und in uns selber die Armen zu sehen, für die Jesus gekommen ist, „ein Gnadenjahr des Herrn“ auszurufen, eine Zeit der Vergebung, der Versöhnung.
Das Programm Jesu ist großartig, aber anspruchsvoll. Wie traurig, wenn es von uns Christen so wenig gelebt wird. Und wie überzeugend ist es in den Menschen, Christen oder nicht, die es echt und glaubwürdig leben.
Schon viele haben es unternommen, eine Erzählung über die Ereignisse abzufassen, die sich unter uns erfüllt haben. Dabei hielten sie sich an die Überlieferung derer, die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes waren. Nun habe auch ich mich entschlossen, nachdem ich allem von Beginn an sorgfältig nachgegangen bin, es für dich, hochverehrter Theophilus, der Reihe nach aufzuschreiben. So kannst du dich von der Zuverlässigkeit der Lehre überzeugen, in der du unterwiesen wurdest. Jesus kehrte, erfüllt von der Kraft des Geistes, nach Galiläa zurück. Und die Kunde von ihm verbreitete sich in der ganzen Gegend. Er lehrte in den Synagogen und wurde von allen gepriesen. So kam er auch nach Nazaret, wo er aufgewachsen war, und ging, wie gewohnt, am Sabbat in die Synagoge. Als er aufstand, um vorzulesen, reichte man ihm die Buchrolle des Propheten Jesaja. Er öffnete sie und fand die Stelle, wo geschrieben steht: Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn er hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe. Dann schloss er die Buchrolle, gab sie dem Synagogendiener und setzte sich. Die Augen aller in der Synagoge waren auf ihn gerichtet. Da begann er, ihnen darzulegen: Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt.
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