„Wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, das tut auch ihr ihnen.“ - Das ist die „goldene Regel“.
„Wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, das tut auch ihr ihnen.“ - Das ist die „goldene Regel“.
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium am Sonntag, 24. Februar 2019 (Lk 6, 27-38)
In der letzten Zeit hat die Zahl der Morde erschreckend zugenommen. Fast jeden Tag wird von neuen Fällen berichtet. Erschossen, erstochen, erwürgt – es sieht fast schon nach einer Epidemie aus. Und die Täter sind nicht nur Ausländer, Zuwanderer oder Flüchtlinge. Es sind Eifersuchtsdramen, Beziehungskonflikte, Racheakte, Abrechnungen, lange aufgestaute Aggressionen, die sich plötzlich entladen. Wird das Klima in unserer Gesellschaft rauer? Werden die Sitten roher? Wächst bei vielen der Druck des Alltagslebens so sehr, dass es zu gewalttätigen Ausbrüchen kommt, die dann mit einem Mord enden?
Wer das heutige Evangelium liest, wird sich vielleicht fragen: Ist das die Welt, in der wir leben? Was Jesus da fordert, ist so anders als das, was wir täglich in den Medien hören, sehen und lesen. Ist Jesus ein Träumer? Sind seine Worte nicht völlig fern aller Wirklichkeit? Und doch: Was Jesus heute sagt, löst in mir eine große Sehnsucht aus, es weckt eine Hoffnung. Eigentlich wünsche ich mir, dass es unter uns so aussieht, wie Jesus es sagt, dass unser Zusammenleben wenigstens ein bisschen mehr von den Haltungen bestimmt wird, die Jesus beschreibt. Wie anders wäre unsere Welt, wenn es uns gelingen würde, so miteinander umzugehen, wie Jesus es uns ans Herz legt!
In der Mitte der Ratschläge Jesu steht ein ganz einfacher Satz, der uns allen eigentlich einleuchten müsste. „Wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, das tut auch ihr ihnen.“ Man nennt das die „goldene Regel“. Würden wir sie tagtäglich anwenden, dann hätten wir wirklich andere Zustände. Das beginnt schon bei der ersten Regel, die Jesus nennt und die wohl die schwierigste von allen ist: „Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen.“ Das klingt nach völliger Überforderung! Wie soll man lieben, wenn einem nur Hass entgegenkommt? Und noch dazu denen Gutes tun, die uns Übles wollen? Da hilft die „goldene Regel“. Nehmen wir an: Ich bin mit jemandem zerstritten. Es geht gar nichts mehr zwischen uns. Was wäre mir lieber? Dass der andere mir mit wütendem Hass begegnet? Oder dass er mir trotz unseres Konfliktes Verständnis zeigt und mir die Hand reicht? Wer von uns wünscht sich, gehasst zu werden? Wer hat Freude daran, wenn ihm Böses angetan wird?
Der übliche Einwand gegen die „goldene Regel“ lautet: Wenn ich in einem Konflikt anfange, auf Hass und Streit zu verzichten, dann ziehe ich den Kürzeren, dann wird der andere mich übervorteilen. In jeder Auseinandersetzung geht es um die Frage: Wer wagt den ersten Schritt der Versöhnung? Jesu Lehre im heutigen Evangelium dreht sich ganz um diesen ersten Schritt: Du selber musst anfangen! Du willst, dass der andere dich gut behandelt? Dann fange selber damit an und tue ihm Gutes!
Jesus hilft uns, diesen oft so schweren ersten Schritt zu tun. Er gibt uns dafür einen guten Grund, ein starkes Motiv, warum wir mit der Versöhnung beginnen sollen: Gott selber macht den ersten Schritt auf uns zu, denn „er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen“. Wie oft bin ich selber undankbar! Gott ist dennoch gut zu mir! Er ist barmherzig zu mir, obwohl ich oft unbarmherzig den anderen gegenüber bin. Deshalb: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“
Wenn wir das beherzigen, dann werden wir auch nicht über andere richten und urteilen. Dann werden wir einander die Schuld erlassen und vergeben. Das ist eigentlich alles sehr einsichtig.
Euch aber, die ihr zuhört, sage ich: Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen! Segnet die, die euch verfluchen; betet für die, die euch beschimpfen! Dem, der dich auf die eine Wange schlägt, halt auch die andere hin und dem, der dir den Mantel wegnimmt, lass auch das Hemd! Gib jedem, der dich bittet; und wenn dir jemand das Deine wegnimmt, verlang es nicht zurück! Und wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, das tut auch ihr ihnen! Wenn ihr die liebt, die euch lieben, welchen Dank erwartet ihr dafür? Denn auch die Sünder lieben die, von denen sie geliebt werden. Und wenn ihr denen Gutes tut, die euch Gutes tun, welchen Dank erwartet ihr dafür? Das tun auch die Sünder. Und wenn ihr denen Geld leiht, von denen ihr es zurückzubekommen hofft, welchen Dank erwartet ihr dafür? Auch die Sünder leihen Sündern, um das Gleiche zurückzubekommen. Doch ihr sollt eure Feinde lieben und Gutes tun und leihen, wo ihr nichts zurückerhoffen könnt. Dann wird euer Lohn groß sein und ihr werdet Söhne des Höchsten sein; denn auch er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen. Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist! Richtet nicht, dann werdet auch ihr nicht gerichtet werden! Verurteilt nicht, dann werdet auch ihr nicht verurteilt werden! Erlasst einander die Schuld, dann wird auch euch die Schuld erlassen werden! Gebt, dann wird auch euch gegeben werden! Ein gutes, volles, gehäuftes, überfließendes Maß wird man euch in den Schoß legen; denn nach dem Maß, mit dem ihr messt, wird auch euch zugemessen werden.
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