Aber auch Sehende können blind sein. Von dieser Blindheit spricht Jesus heute. Sie ist viel häufiger als die körperliche Blindheit.
(Bild: "Der Blindensturz" von Pieter Bruegel der Ältere, 1568)
Aber auch Sehende können blind sein. Von dieser Blindheit spricht Jesus heute. Sie ist viel häufiger als die körperliche Blindheit.
(Bild: "Der Blindensturz" von Pieter Bruegel der Ältere, 1568)
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium am Sonntag, 3. März 2019 (Lk 6,39-45)
Erschütternd ist das Bild „Der Blindensturz“ von Pieter Bruegel (1526-1569). Er hat das Wort Jesu bildlich dargestellt. Sechs Blinde halten sich aneinander fest. Ihr Weg führt bergab. Der erste ist schon gestürzt, in einen Tümpel gefallen. Die anderen folgen ihm. Es ist vorauszusehen, dass auch sie stürzen werden. Zum Erbarmen sind die Gesichter der Blinden. Sie sind armselig gekleidet, die Blindheit hat sie zu Bettlern gemacht. Ein Anblick, den es zur Zeit Jesu häufig gab und der noch heute in vielen Ländern zum Alltag gehört.
Jesus selber war immer wieder erschüttert über die Not der Blinden und hat viele von ihren Leiden geheilt. Bekannt ist die Geschichte vom blinden Bartimäus aus Jericho. Er rief so laut um Hilfe, bat lautstark um Erbarmen, dass Jesus ihn zu sich rief und ihn fragte: „Was willst du, dass ich dir tun soll?“ „Herr, dass ich wieder sehen kann!“ Und Jesus hat ihm wieder das Augenlicht geschenkt.
Aber auch Sehende können blind sein. Von dieser Blindheit spricht Jesus heute. Sie ist viel häufiger als die körperliche Blindheit. Blind sein für die eigenen Fehler, aber ganz scharfsichtig die Fehler der anderen sehen, das ist schlimmer als der leibliche Verlust der Sehkraft. Jesus gebraucht dafür ein ganz drastisches Bild, das zum Sprichwort geworden ist: „Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem eigenen Auge bemerkst du nicht?“ Jesus legt den Finger auf eine der häufigsten Wunden im menschlichen Zusammenleben. Warum fallen uns die Fehler der anderen so überdeutlich auf, während wir uns so schwer tun, unsere eigenen Fehler und Schwächen wahrzunehmen und einzugestehen?
Jesus nennt das Heuchelei. Und er entlarvt sie schonungslos. Schau doch zuerst auf deine eigenen Fehler! Dann werden dir die Fehler der anderen winzig klein erscheinen! Deine Fehler sind groß wie ein Balken, die der anderen klein wie ein Splitter. Meist hast du genau den umgekehrten Eindruck. Du leidest unter den Fehlern der anderen und übersiehst, wie mühsam du selber für die anderen bist, vor allem, weil du dich für besser hältst als sie.
Mir kommt dann oft der Einwand: Meine Fehler sind doch gar nicht so schlimm! Verglichen mit dem, was andere angestellt haben, sind meine Fehler nicht so groß wie Balken, sondern eher klein wie Splitter. Ich habe doch niemanden umgebracht! Auch habe ich andere nicht schwer betrogen! Muss ich mich nach Jesu Worten für schlimmer halten als die Verbrecher, die im Gefängnis gelandet sind?
Und noch ein Einwand gegen Jesu Wort: darf ich jetzt den anderen nicht mehr auf seine Fehler hinweisen? Hat Jesus nicht selber gesagt, dass wir unseren Nächsten unter vier Augen auf seine Verfehlungen aufmerksam machen sollen? In meiner Erfahrung gehört es zu den schwierigsten Dingen, dem anderen ehrlich zu sagen, was bei ihm nicht in Ordnung ist. Dazu gehört meist sehr viel Mut, besonders dann, wenn der andere der eigene Chef ist.
Aber genau darum geht es auch im heutigen Evangelium. Jesus macht Mut zum ehrlichen und helfenden Wort dem anderen gegenüber. Damit es wirklich dem anderen hilft, wenn du ihm ein kritisches Wort sagst, musst du zuerst ganz und gar ehrlich dir selber gegenüber sein. Nur wer seine eigenen Fehler klar sieht und bereut und sich zu ändern bereit ist, kann andere so führen, dass die Zurechtweisung hilft und heilt. Andernfalls bist du, wie in Bruegels Bild, ein blinder Blindenführer.
Jesus sprach aber auch in Gleichnissen zu ihnen: Kann etwa ein Blinder einen Blinden führen? Werden nicht beide in eine Grube fallen? Ein Jünger steht nicht über dem Meister; jeder aber, der alles gelernt hat, wird wie sein Meister sein. Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem eigenen Auge bemerkst du nicht? Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Bruder, lass mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen, während du selbst den Balken in deinem Auge nicht siehst? Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge; dann kannst du zusehen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen. Es gibt keinen guten Baum, der schlechte Früchte bringt, noch einen schlechten Baum, der gute Früchte bringt. Denn jeden Baum erkennt man an seinen Früchten: Von den Disteln pflückt man keine Feigen und vom Dornstrauch erntet man keine Trauben. Der gute Mensch bringt aus dem guten Schatz seines Herzens das Gute hervor und der böse Mensch bringt aus dem bösen das Böse hervor. Denn wovon das Herz überfließt, davon spricht sein Mund.
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