Heute gilt immer noch, dass die Zehn Gebote Gottes, die Mose am Sinai erhielt, die Grundregeln des menschlichen Lebens darstellen.
Heute gilt immer noch, dass die Zehn Gebote Gottes, die Mose am Sinai erhielt, die Grundregeln des menschlichen Lebens darstellen.
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zur Lesung am Pfingstfest, 9. Juni 2019 (Apg 2,1-11)
Unsere Feiertage haben alle ihre eigene Geschichte. Das gilt für die religiösen wie die staatlichen Feiertage. Das heutige Pfingstfest hat tief in die Geschichte zurückreichende Wurzeln. Es ist eines der Hauptfeste des Judentums, ohne das es kein Christentum gäbe. Das jüdische „Wochenfest“ (Schavuot) wird fünfzig Tage nach einem großen jüdischen Fest gefeiert, nach Pessach, dem Osterfest. Ursprünglich war es ein Erntedankfest am Ende der Weizenernte, die, dem Klima entsprechend, im Heiligen Land deutlich früher als bei uns stattfindet.
Wie so viele unserer religiösen Feste hat Pfingsten einen mit der Natur und der Landwirtschaft verbundenen Mutterboden. Es tut uns heutigen Menschen gut, uns daran zu erinnern, dass wir in allen unseren Festen zuerst dem Schöpfer danken, ohne dessen Segen es kein Wachsen, kein Gedeihen, keine Ernte gibt. Und ohne Ernte gäbe es nur Hunger und Not. Wie sehr wir vom Wetter abhängen, beginnen wir durch die Sorgen des Klimawandels neu zu spüren.
Das jüdische Pfingst- oder Wochenfest hat aber auch einen tiefen Bezug zur Geschichte des jüdischen Volkes. Denn an diesem Tag erinnern sich die Juden dankbar an das große Geschenk, das Gott seinem Volk gemacht hat: den Bund, den er mit ihnen am Berg Sinai geschlossen hat, und die Zehn Gebote, die Gott dem Mose übergeben hat. Sie sind die Grundregeln eines guten und geglückten Lebens, nicht nur für das jüdische Volk, sondern für alle Menschen.
Das Leben Jesu war stark geprägt vom Rhythmus der jüdischen Feste. Jahr für Jahr ging er zum Osterfest nach Jerusalem. Es ist uns wohl viel zu wenig bewusst, wie tief Jesu persönliches Leben und Beten, Arbeiten und Feiern, von seinem jüdischen Mutterboden bestimmt war. Gerade sein letztes Osterfest macht das deutlich. Er kam ja als Pilger hinauf nach Jerusalem, um mit seinen Aposteln, seinen Begleiterinnen, seiner Mutter und seinen Verwandten, die alle aus Galiläa mitgekommen waren, in der Heiligen Stadt Pessach, Ostern zu feiern. Was daraus wurde, wissen wir aus dem Evangelium: Beim Pessachmahl hat er mit Brot und Wein eine neue Feier gestiftet, die bis heute im Abendmahl, der Eucharistie, zu seinem Gedächtnis gefeiert wird. Es folgten seine Gefangennahme, der Prozess, die Verurteilung, der Tod am Kreuz, genau vor dem Höhepunkt des jüdischen Osterfestes. Und dann der Ostermorgen, das leere Grab, seine Erscheinungen und der Auftrag an seine Anhänger, in Jerusalem zu bleiben und zu warten, was geschehen wird.
Nach fünfzig Tagen, am jüdischen Pfingstfest, waren wieder zahllose Pilger aus aller Welt in Jerusalem. Da geschah, was uns heute berichtet wird: ein starkes Ereignis, das wie ein Sturm, ein Brausen, wie Feuerflammen erlebt wurde. Die Menschen laufen zusammen und erleben, „fassungslos vor Staunen“, wie diese Leute aus Galiläa zu ihnen sprechen, und jeder sie in seiner eigenen Sprache reden hört.
„Alle wurden vom Heiligen Geist erfüllt“, so deuteten die Jünger Jesu, was sie damals erlebten. Und seither feiern die Christen den fünfzigsten Tag nach Ostern als das Fest des Heiligen Geistes. Hat das noch etwas zu tun mit den jüdischen Wurzeln dieses Festes? Gewiss, und daran möchte ich erinnern. Zuerst gilt auch heute noch: Die ganze Schöpfung und ihre Geheimnisse sind erfüllt und getragen vom Schöpfergeist Gottes. Weiters: Heute gilt immer noch, dass die Zehn Gebote Gottes, die Mose am Sinai erhielt, die Grundregeln des menschlichen Lebens darstellen. Der Buchstabe der Gebote allein genügt freilich nicht. Das wusste schon Mose. Deshalb brauchen wir den Geist Gottes, der in den Herzen, im Gewissen der Menschen den richtigen Weg zeigt. Der Geist Gottes ist der große Erneuerer, der neue Kraft, neuen Aufbruch schenkt, oft gerade dann, wenn alles alt und morsch zu sein scheint. Die Hoffnung auf den Heiligen Geist, den wir alle so sehr brauchen, teilen wir mit den Juden, unseren Verfahren im Glauben.
Als der Tag des Pfingstfestes gekommen war, waren alle zusammen am selben Ort. Da kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten; auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder. Und alle wurden vom Heiligen Geist erfüllt und begannen, in anderen Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab. In Jerusalem aber wohnten Juden, fromme Männer aus allen Völkern unter dem Himmel. Als sich das Getöse erhob, strömte die Menge zusammen und war ganz bestürzt; denn jeder hörte sie in seiner Sprache reden. Sie waren fassungslos vor Staunen und sagten: Seht! Sind das nicht alles Galiläer, die hier reden? Wieso kann sie jeder von uns in seiner Muttersprache hören: Parther, Meder und Elamiter, Bewohner von Mesopotamien, Judäa und Kappadokien, von Pontus und der Provinz Asien, von Phrygien und Pamphylien, von Ägypten und dem Gebiet Libyens nach Kyrene hin, auch die Römer, die sich hier aufhalten, Juden und Proselyten, Kreter und Araber – wir hören sie in unseren Sprachen Gottes große Taten verkünden.
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