Selbstverleugung oder Selbstverwirklichung: Es gibt eine Art von Frömmigkeit, die Selbstverleugnung als eine lebensfeindliche Haltung missversteht.
Selbstverleugung oder Selbstverwirklichung: Es gibt eine Art von Frömmigkeit, die Selbstverleugnung als eine lebensfeindliche Haltung missversteht.
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium am Sonntag, 23. Juni 2019 (Lk 9,18-24)
Mit manchen Worten Jesu tun wir heutige Zeitgenossen uns besonders schwer. Dazu gehört zweifellos die Stelle im heutigen Evangelium: „Wenn einer hinter mir hergehen will“, also mein Jünger sein will, „verleugne er sich selbst“. Für Christen früherer Jahrhunderte war das Wort „Selbstverleugnung“ ein viel gebrauchter, allgemein bekannter Begriff der christlichen Spiritualität. Ein Christ muss sich selbst verleugnen! Was das bedeutet, das erklärt das nächste Wort Jesu: „... der nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge mir nach.“
Sein Kreuz tragen, sich selbst verleugnen – das galt geradezu als Kennzeichen eines guten Christen, als „Nachfolge Christi“. So sah ein Leben aus, das sich an Jesus orientiert. Denn Jesus selber hat sein Kreuz auf sich genommen, das Leiden, das ihm zugefügt wurde, freiwillig angenommen und den Kreuzestod erduldet. Was Selbstverleugnung bedeutet, das lernten die früheren Generationen an Jesus, der nicht gekommen ist, um sich bedienen zu lassen, sondern zu dienen und sein Leben hinzugeben für uns Menschen.
Ich erinnere mich gut an die Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, wo immer mehr Stimmen zu hören waren, die die traditionelle Frömmigkeit der Selbstverleugnung in Frage stellten. Selbstverwirklichung wurde das Leitwort, nicht Selbstverleugnung. Letztere klingt so negativ. Sollen wir wirklich Nein“ zu uns selber sagen? Gott sagt doch Ja zu uns. In einer Welt, in der so vieles und so viele zu uns Nein sagen, schenkt Gott uns sein volles Ja. Er nimmt uns an, wo uns von anderen so viel Ablehnung begegnet.
Ich gestehe, dass diese starke Betonung von Gottes Ja zu uns mir persönlich sehr geholfen hat. Es gibt eine Art von Frömmigkeit, die Selbstverleugnung als eine lebensfeindliche Haltung missversteht. Dann wird Freude als unfromm verdächtigt. Dann darf nichts als Genuss erlebt werden. Diese Einstellung vergisst, dass Jesus auferstanden ist und lebt und dass das Kreuz nicht das Ende seines Weges war, sondern der Durchgang zum vollen Leben. Wie oft hat Jesus von der Freude gesprochen und dass er sich wünscht, dass seine Freude in uns wachse.
Wie also sollen wir Jesus verstehen, wenn er so klar sagt: Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst? Ich glaube, Jesus selber gibt uns den Schlüssel zur Antwort. Er weist auf ein Grundgesetz des Lebens hin. Es lautet: „Wer sein Leben retten will, wird es verlieren.“ Das heißt doch: Wenn du dieses Leben nur für dich leben willst, wird es dir zwischen den Fingern zerrinnen! Nur ein Leben, das sich schenkt, ist lebendig, denn das Leben lebt vom Geben. Wer sich selbst zum Mittelpunkt macht, bleibt alleine. Wer sein Leben mit anderen teilt, dem strömt das Leben zu. Dazu gehört auch das Teilen von Leid und Not. Selbstverleugnung heißt Augen, Ohren und Herz öffnen für die anderen. Das hat Jesus getan, bis zur völligen Hingabe seines Lebens für uns. Dazu lädt er uns ein. Und dieser Weg macht glücklich.
Und es geschah: Jesus betete für sich allein und die Jünger waren bei ihm. Da fragte er sie: Für wen halten mich die Leute? Sie antworteten: Einige für Johannes den Täufer, andere für Elija; wieder andere sagen: Einer der alten Propheten ist auferstanden. Da sagte er zu ihnen: Ihr aber, für wen haltet ihr mich? Petrus antwortete: Für den Christus Gottes. Doch er befahl ihnen und wies sie an, es niemandem zu sagen. Und er sagte: Der Menschensohn muss vieles erleiden und von den Ältesten, den Hohepriestern und den Schriftgelehrten verworfen werden; er muss getötet und am dritten Tage auferweckt werden. Zu allen sagte er: Wenn einer hinter mir hergehen will, verleugne er sich selbst, nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, der wird es retten.
Mehr über Kardinal Christoph Schönborn
Die "Gedanken zum Evangelium" jeden Sonntag auf "radio klassik Stephansdom" zum Nachhören: