Wer ist denn der Hirte, der dem verlorenen Schaf nachgeht? Jesus erzählt von Gott! Es geht nicht zuerst um die Kirche, sondern darum, dass Gott jedem Menschen nachgeht.
Wer ist denn der Hirte, der dem verlorenen Schaf nachgeht? Jesus erzählt von Gott! Es geht nicht zuerst um die Kirche, sondern darum, dass Gott jedem Menschen nachgeht.
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium am Sonntag, 15. September 2019 (Lk 15,1-10)
Was war das wohl an Jesus, dass damals „alle Zöllner und Sünder“ zu ihm kamen, „um ihn zu hören“? Gerade die, die als ganz unfromm galten, haben Jesus besonders gerne gehört. Die ganz Frommen, „die Pharisäer und die Schriftgelehrten“, „empörten sich darüber und sagten: Dieser nimmt Sünder auf und isst mit ihnen“.
Jesus setzt sich mit solchen Leuten an einen Tisch! Das ist für die Frommen ein Ärgernis. Warum tut das Jesus? Liebt er die Provokation? Hat er etwas gegen fromme Leute? Merkt er nicht, mit was für Menschen er sich da umgibt? Spielt die Moral für ihn keine Rolle?
Auf alle diese Fragen gibt Jesus keine theoretische Antwort. Wie so oft erzählt er einfach Geschichten, Gleichnisse. Und immer sagt er damit: Finde selber eine Antwort! Denk darüber nach, wie es in deinem eigenen Leben aussieht! Was löst die Geschichte, die ich euch erzähle, in deinem Herzen aus? Hast du selber schon Erfahrungen gemacht wie die, von denen ich in meinen Gleichnissen spreche?
Heute legt Jesus uns zwei Gleichnisse vor, ganz einfache Geschichten aus dem Alltag: Ein Hirte hat ein Schaf verloren, eine Hausfrau hat ein Geldstück verloren. Beide beginnen zu suchen. Beide geben die Suche nicht auf, bis sie gefunden haben. Beide könnten sich sagen: Es lohnt sich die Mühe nicht! Ich habe ja noch 99 andere Schafe. Ich habe ja nur eine nicht so wertvolle Geldmünze verloren. Beide empfinden eine riesige Freude, wenn sie das Verlorene gefunden haben. Beide müssen unbedingt den anderen von ihrer Freude erzählen.
Habe ich ähnliche Erfahrungen gemacht? Was fällt mir dazu ein? Persönliche Erinnerungen: Auf einer Reise in die USA finde ich meinen Pass nicht mehr. Panik. Suchen. Riesenerleichterung, als ich ihn finde. Oder: Unterwegs im Ausland. Wo ist mein Handy? Panik. Alle Telefonnummern weg. Wie kann ich mich verständigen? Aufatmen, als ich es doch finde. Aber geht es in den Gleichnissen Jesu um solche Erfahrungen? Etwas Anderes fällt mir ein: die monatlichen Meldungen der Kirchenaustritte! Meine erste Reaktion ist Schmerz: Warum laufen uns die Schäflein davon? Was haben wir, was habe ich falsch gemacht? Dann spüre ich eine Versuchung: zu denken, dass zwar nicht mehr 99 Schafe übrigbleiben, aber immer noch ganz schön viele. Doch da kommt mir Jesus mit seinem Gleichnis zu Hilfe. Wer ist denn der Hirte, der dem verlorenen Schaf nachgeht? Jesus erzählt von Gott! Es geht nicht zuerst um die Kirche, sondern darum, dass Gott jedem Menschen nachgeht. Gott sucht den Menschen, jeden! Keiner ist ihm unwichtig. Besonders wichtig sind ihm die, die es schwer haben, die alleine, einsam, verloren, hilflos sind. Auch wenn jemand aus der Kirche ausgetreten ist, so ist er nicht aus Gottes nachgehender Liebe herausgefallen.
Die beiden Gleichnisse Jesu stellen mir eine ganz persönliche Frage: Gehöre ich zu den neunundneunzig Gerechten, „die es nicht nötig haben umzukehren?“, oder bin ich ein Sünder, der wirklich umkehren muss? Vielleicht will Jesus mir mit der Geschichte vom verlorenen Schaf sagen: Sei dankbar, wenn dir in deinem Leben große Abstürze erspart geblieben sind! Schau nicht auf die herunter, die aus vielerlei Gründen zu „verlorenen Schafen“ geworden sind. Es könnte auch dein Schicksal sein! Und vor allem: Gott freut sich über jeden, der zu ihm heimfindet. Freue dich doch mit!
Alle Zöllner und Sünder kamen zu Jesus, um ihn zu hören. Die Pharisäer und die Schriftgelehrten empörten sich darüber und sagten: Dieser nimmt Sünder auf und isst mit ihnen. Da erzählte er ihnen dieses Gleichnis und sagte: Wenn einer von euch hundert Schafe hat und eins davon verliert, lässt er dann nicht die neunundneunzig in der Wüste zurück und geht dem verlorenen nach, bis er es findet? Und wenn er es gefunden hat, nimmt er es voll Freude auf die Schultern, und wenn er nach Hause kommt, ruft er die Freunde und Nachbarn zusammen und sagt zu ihnen: Freut euch mit mir, denn ich habe mein Schaf wiedergefunden, das verloren war! Ich sage euch: Ebenso wird im Himmel mehr Freude herrschen über einen einzigen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die keine Umkehr nötig haben. Oder wenn eine Frau zehn Drachmen hat und eine davon verliert, zündet sie dann nicht eine Lampe an, fegt das Haus und sucht sorgfältig, bis sie die Drachme findet? Und wenn sie diese gefunden hat, ruft sie die Freundinnen und Nachbarinnen zusammen und sagt: Freut euch mit mir, denn ich habe die Drachme wiedergefunden, die ich verloren hatte! Ebenso, sage ich euch, herrscht bei den Engeln Gottes Freude über einen einzigen Sünder, der umkehrt.
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