Jesus will bei uns zu Gast sein - bei jedem von uns.
Jesus will bei uns zu Gast sein - bei jedem von uns.
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium am Sonntag, 3. November 2019 (Lk 19,1-10)
Die Geschichte vom reichen Zachäus ist so anschaulich und lebendig, dass sie oft nachgespielt wird. Bei Schulbesuchen habe ich immer wieder erlebt, dass Kinder die Szene lieben, wie der kleinwüchsige Zachäus auf einen Baum klettert, um Jesus zu sehen, und wie Jesus ihn erblickt und herunterruft, um sein Gast zu sein. Nicht nur Kinder finden leicht Zugang zu dieser Geschichte. Sie berührt auch die Erwachsenen. Die Freude des Zachäus ist ansteckend: Jesus ruft ihn bei seinem Namen und lädt sich selber bei ihm ein: Heute muss ich zu dir in dein Haus kommen!
Versuchen wir freilich tiefer in diese Begegnung einzudringen, dann zeigt sich ein Bild, das sehr nachdenklich macht. Ich stelle mir selber die Frage: Wie hätte ich reagiert, wenn ich damals ein Bewohner von Jericho gewesen wäre? Hätte ich dann die Geschichte so lustig gefunden wie die Kinder, die den baumkraxelnden Zachäus nachspielen? Hätte ich die Freude des Zachäus teilen können, dass Jesus ausgerechnet bei ihm Gast sein wollte? Und wie sieht es aus, wenn wir uns vorzustellen versuchen, wer heute ein solcher Zachäus sein könnte? Was würden wir denken und sagen, wenn Jesus heute bei einem Zeitgenossen wie Zachäus einkehren würde?
Denn eines ist in dieser Geschichte klar: Zachäus ist zwar einer der reichsten Männer von Jericho, vielleicht sogar der reichste. Aber sicher ist er auch einer der verhasstesten, vielleicht sogar der am meisten gehasste Mann von Jericho.
In den drei Wochen, die ich in Rom bei der Amazoniensynode verbracht habe, sind mir viele Geschichten bekannt geworden, die durchaus an Zachäus erinnern. Eine der erschütterndsten: Ein Bischof erzählte von einem Dorf in seiner Diözese, das „Trezentos“ genannt wird, „Dreihundert“. Er wunderte sich über diese Bezeichnung, bis er erfuhr, dass der Großgrundbesitzer dort dreihundert Landarbeiter umgebracht hat, die dort wie Sklaven gearbeitet haben. Und das geschah erst vor wenigen Jahren. Auf der Amazoniensynode ist von vielen solchen himmelschreienden Ungerechtigkeiten die Rede gewesen.
Zachäus war zweifellos ein schlimmer Halsabschneider, der nur auf Kosten der Armen so reich geworden war. Stellen wir uns vor, Jesus will in Amazonien ausgerechnet Gast bei diesem mörderischen Großgrundbesitzer sein. Ich gestehe, ich wäre darüber entsetzt und empört. Was kam nur Jesus in den Sinn, in Jericho ausgerechnet bei Zachäus bleiben zu wollen?
Ein Gedanke hilft mir, Jesus zu verstehen: die Tatsache, dass dieser kleinwüchsige, reiche Mann sich nicht zu gut war, wie ein Bub auf einen Baum zu klettern, nur um Jesus sehen zu können, wenn er da vorbeikommt. Was muss das für eine Sehnsucht im Herzen des Zachäus gewesen sein, dass es ihm so wichtig war, wenigstens einen Blick auf Jesus zu erhaschen!
Und Jesus, der die Herzen der Menschen kannte, und der auch jetzt weiß, was unser Herz bewegt, blickt hinauf zu dem Baum, auf den Zachäus geklettert war. Und da geschieht das Entscheidende, das Unaussprechliche: Die Blicke der beiden begegnen einander!
Ich bin sicher: Sein Leben lang hat Zachäus diesen Blick nie mehr vergessen. Zachäus muss gespürt haben, dass Jesus ihn durch und durch kennt, dass er vor Jesus nichts verbergen kann und auch nichts verbergen muss. In diesem Blick war keine Spur von Urteil, nicht die geringste Verachtung, nur das Unfassbare: Zachäus, komm herunter! Ich muss zu dir kommen, heute, jetzt!
Die Kinder lieben es, die Zachäusgeschichte zu spielen. Vielleicht ahnen sie besser als wir Erwachsene, dass Jesus zu jedem von uns sagt: Komm herunter, heute muss ich bei dir bleiben!
Dann kam er nach Jericho und ging durch die Stadt. Und siehe, da war ein Mann namens Zachäus; er war der oberste Zollpächter und war reich. Er suchte Jesus, um zu sehen, wer er sei, doch er konnte es nicht wegen der Menschenmenge; denn er war klein von Gestalt. Darum lief er voraus und stieg auf einen Maulbeerfeigenbaum, um Jesus zu sehen, der dort vorbeikommen musste. Als Jesus an die Stelle kam, schaute er hinauf und sagte zu ihm: Zachäus, komm schnell herunter! Denn ich muss heute in deinem Haus bleiben. Da stieg er schnell herunter und nahm Jesus freudig bei sich auf. Und alle, die das sahen, empörten sich und sagten: Er ist bei einem Sünder eingekehrt. Zachäus aber wandte sich an den Herrn und sagte: Siehe, Herr, die Hälfte meines Vermögens gebe ich den Armen, und wenn ich von jemandem zu viel gefordert habe, gebe ich ihm das Vierfache zurück. Da sagte Jesus zu ihm: Heute ist diesem Haus Heil geschenkt worden, weil auch dieser Mann ein Sohn Abrahams ist. Denn der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist.
Mehr über Kardinal Christoph Schönborn
Die "Gedanken zum Evangelium" jeden Sonntag auf "radio klassik Stephansdom" zum Nachhören: