Was also ist die „größere Gerechtigkeit“, von der Jesus spricht? Sicher nicht die Selbstgerechtigkeit, die andere für die Schlechten, sich selber aber für den Guten hält.
Was also ist die „größere Gerechtigkeit“, von der Jesus spricht? Sicher nicht die Selbstgerechtigkeit, die andere für die Schlechten, sich selber aber für den Guten hält.
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium am Sonntag, 16. Februar 2020 (Matthäus 5,20.-22a.27-28.33-34a.37)
Ich habe niemanden umgebracht. Ich bin ein anständiger Mensch! Solche und ähnliche Worte habe ich öfters schon gehört. Wer so redet, will damit sagen: So schlimm wie die Mörder bin ich nicht! Vielleicht kann jemand, der so denkt und spricht, auch ehrlich sagen: Ehebruch habe ich nie begangen! Und ein Meineid, eine schwere Lüge, ist nie über meine Lippen gekommen!
Wer solches von sich selber sagen kann, ist zweifellos ein anständiger Mensch. Und Gott sei Dank gibt es nicht wenige anständige Menschen. Ich glaube sogar, dass die große Mehrheit der Menschen sich im Großen und Ganzen anständig benimmt. Wäre es anders, dann wäre unsere Welt eine Hölle. Wenn Mord, Ehebruch, Lug und Betrug das Normale wären, dann könnte unser normales Alltagsleben gar nicht funktionieren. Ich muss nicht in jedem Passanten einen Mörder vermuten, bei aller Sorge, ja Angst vor möglichen Terroristen. Ich darf vertrauen, dass wir im täglichen Ein- und Verkaufen nicht überall auf Betrüger stoßen.
Es stimmt schon: Wer von uns hat noch nie in der Wut mindestens in Gedanken gesagt: Ich könnte dich umbringen? Wer hat noch nie zu einer Lüge Zuflucht genommen? Wem sind noch nie begehrliche Gedanken gegenüber der Frau eines anderen, dem Mann einer anderen gekommen? Aber deswegen würden wir uns selber nicht als Mörder, Ehebrecher, Betrüger bezeichnen.
Heute hinterfragt Jesus genau diese Haltung. Er tut es mit einem Wort, das aus dem Leben seiner Zeit gegriffen ist: „Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ Diesen beiden Gruppen, den Schriftgelehrten und den Pharisäern, warf Jesus immer wieder vor allem eines vor: ihre Selbstgerechtigkeit. Sie hielten sich für besser als die anderen und neigten daher dazu, die „Sünder“ zu verachten. Genau das ist der kritische Punkt! Jesus fordert uns auf, uns selber nüchtern zu prüfen: Es ist gut, dass du nie jemanden umgebracht hast. Der Mörder verdient strengste Strafe. Aber wie oft hast du schon deinem Nächsten gezürnt? „Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein“, sagt Jesus. Er stellt Mord und Zorn auf eine Stufe.
Vor einem weltlichen Gericht ist Zorn kein Strafbestand. Aber vor dem Gericht Gottes wiegt beides gleich schwer. Unversöhnliche Feindschaft, Hass im Herzen, Groll gegen den anderen: All das sieht Jesus als schweres Vergehen, auch wenn wir es im Alltag verharmlosen. Nach Jesu Worten beginnt der Ehebruch bereits im Blick, im Begehren, in den Gedanken. Wer kann von sich sagen, ohne jemals Ehebruch begangen zu haben, er habe nie „eine Frau angesehen, um sie zu begehren“? Und wer kann von sich behaupten, er habe nie mit der Wahrheit geschummelt?
Was also ist die „größere Gerechtigkeit“, von der Jesus spricht? Sicher nicht die Selbstgerechtigkeit, die andere für die Schlechten, sich selber aber für den Guten hält. Für Jesus genügt es nicht, „ein anständiger Mensch“ zu sein. Hast du niemanden umgebracht, dann danke Gott, dass er dich davor bewahrt hat. Aber erst wenn das Böse auch aus deinem Herzen verbannt ist, wirst du ein wirklich guter, gerader Mensch sein.
In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Jüngern: Darum sage ich euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen. Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht töten; wer aber jemanden tötet, soll dem Gericht verfallen sein. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein. Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst nicht die Ehe brechen. Ich aber sage euch: Jeder, der eine Frau ansieht, um sie zu begehren, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen. Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst keinen Meineid schwören, und: Du sollst halten, was du dem Herrn geschworen hast. Ich aber sage euch: Schwört überhaupt nicht. Eure Rede sei: Ja ja, nein nein; was darüber hinausgeht, stammt vom Bösen.