Gerade zur rechten Zeit des Jahres hören wir das Gleichnis Jesu von der Weinlese. Es spiegelt Arbeitsverhältnisse wider, die damals herrschten und hoffentlich bei uns nicht wiederkehren, denn es gab sie auch in unseren Landen.
Gerade zur rechten Zeit des Jahres hören wir das Gleichnis Jesu von der Weinlese. Es spiegelt Arbeitsverhältnisse wider, die damals herrschten und hoffentlich bei uns nicht wiederkehren, denn es gab sie auch in unseren Landen.
Gedanken zum Evangelium, von Kardinal Christoph Schönborn, am Sonntag, 20. September 2020 (Matthäus 20,1-16)
Weinlese! Auch bei uns beginnt sie in diesen Tagen. Erntehelfer werden gebraucht, denn die Traubenernte kann nicht warten. Gerade zur rechten Zeit des Jahres hören wir das Gleichnis Jesu von der Weinlese. Es spiegelt Arbeitsverhältnisse wider, die damals herrschten und hoffentlich bei uns nicht wiederkehren, denn es gab sie auch in unseren Landen. Ein Großgrundbesitzer heuert für seine Weinlese Taglöhner an, also Menschen, die keinen fixen Arbeitsplatz haben und von der Hand in den Mund leben. Sozialversicherung, Arbeitslosengeld, alle diese großen sozialen Errungenschaften gab es damals nicht. Sie fehlen auch heute in vielen Ländern. Wer genauer hinschaut, entdeckt, dass es auch bei uns Taglöhner gibt, die an gewissen Straßen der Stadt stehen und warten, ob jemand sie für einen Tagesjob (schwarz) anheuert.
Der Gutsbesitzer geht also frühmorgens, bei Sonnenaufgang, auf den Marktplatz. Da stehen schon viele Männer und hoffen auf eine Tagesarbeit. Einige haben Glück, sie werden engagiert für den üblichen Tageslohn, einen Denar. Gearbeitet wird bis 18 Uhr, also zwölf Stunden. Offensichtlich braucht der Gutsherr doch noch mehr Arbeitskräfte. Viermal kommt er wieder auf den Marktplatz, um 9 Uhr, um 12 Uhr, um 15 Uhr und sogar um 17 Uhr, eine Stunde vor Arbeitsschluss.
Erschütternd ist die Antwort der Männer, die den ganzen Tag vergeblich auf Arbeit gewartet haben: „Niemand hat uns angeworben.“ Kein soziales Netz, keine Mindestsicherung schützt diese Männer und ihre Familien vor dem unvermeidlichen Hunger, wenn sie am Abend mit leeren Händen heimkommen. In Coronazeiten ist das das Schicksal tausender Taglöhner etwa in Indien oder in Lateinamerika.
Am Abend des langen Arbeitstages wird der Lohn ausgezahlt. Alle erhalten einen vollen Tageslohn. Sofort regen sich Neid und Eifersucht. Warum bekommen die, die kaum eine Stunde gearbeitet haben, gleich viel wie wir, die wir volle zwölf Stunden in der Hitze des Tages geschuftet haben? Die Kritik ist auch heute zu hören. Dann fällt schnell das Wort von den Sozialschmarotzern. Der Gutsherr sieht das anders: Stört es dich, dass ich auch zu denen gut bin, die nicht das Glück hatten, eine Arbeit zu finden? Genau aus dieser Haltung Jesu sind viele Errungenschaften des Sozialstaats entstanden. Heute erleben wir, wie gut es ist, dass der Verlust des Arbeitsplatzes nicht sofort den Absturz in die Bettelarmut bedeutet, weil es das Arbeitslosengeld gibt. Krankheit heißt nicht sofortiger Verlust aller sozialen Absicherung, weil es die Krankenversicherung gibt. Das Gleichnis Jesu ist eine Charta der Solidarität. Auch die Letzten sollen nicht leer ausgehen. Denn vergessen wir nie: Sehr schnell kann auch ich abstürzen und zu den Letzten gehören. Gerade in unserer unsicher gewordenen Zeit ist der soziale Zusammenhalt wichtiger denn je. Hüten wir uns vor denen, die heute diese sozialen Errungenschaften lächerlich machen und einen erbarmungslosen Konkurrenzkampf propagieren.
Das Gleichnis Jesu ist kein romantischer Sozialtraum, sondern ein nüchternes Programm für eine gerechte Gesellschaft, in der die Schwächsten nicht unter die Räder kommen. Jesu Worte haben wirklich die Welt verändert. Sie haben gezeigt, wie Gott die Welt vermenschlichen will. Die Charta Jesu bleibt freilich weiterhin Auftrag und Aufgabe.
Denn mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Gutsbesitzer, der früh am Morgen hinausging, um Arbeiter für seinen Weinberg anzuwerben. Er einigte sich mit den Arbeitern auf einen Denar für den Tag und schickte sie in seinen Weinberg. Um die dritte Stunde ging er wieder hinaus und sah andere auf dem Markt stehen, die keine Arbeit hatten. Er sagte zu ihnen: Geht auch ihr in meinen Weinberg! Ich werde euch geben, was recht ist. Und sie gingen. Um die sechste und um die neunte Stunde ging der Gutsherr wieder hinaus und machte es ebenso. Als er um die elfte Stunde noch einmal hinausging, traf er wieder einige, die dort standen. Er sagte zu ihnen: Was steht ihr hier den ganzen Tag untätig? Sie antworteten: Niemand hat uns angeworben. Da sagte er zu ihnen: Geht auch ihr in meinen Weinberg! Als es nun Abend geworden war, sagte der Besitzer des Weinbergs zu seinem Verwalter: Ruf die Arbeiter und zahl ihnen den Lohn aus, angefangen bei den Letzten, bis hin zu den Ersten! Da kamen die Männer, die er um die elfte Stunde angeworben hatte, und jeder erhielt einen Denar. Als dann die Ersten kamen, glaubten sie, mehr zu bekommen. Aber auch sie erhielten einen Denar. Als sie ihn erhielten, murrten sie über den Gutsherrn und sagten: Diese Letzten haben nur eine Stunde gearbeitet und du hast sie uns gleichgestellt. Wir aber haben die Last des Tages und die Hitze ertragen. Da erwiderte er einem von ihnen: Freund, dir geschieht kein Unrecht. Hast du nicht einen Denar mit mir vereinbart? Nimm dein Geld und geh! Ich will dem Letzten ebenso viel geben wie dir. Darf ich mit dem, was mir gehört, nicht tun, was ich will? Oder ist dein Auge böse, weil ich gut bin? So werden die Letzten Erste sein und die Ersten Letzte.