Jesus kenn uns. Kennen wir Jesus?
Jesus kenn uns. Kennen wir Jesus?
Gedanken zum Evangelium von Kardinal Christoph Schönborn am Sonntag, 4. Juli 2021 (Markus 6,1b-6).
Da lebt einer dreißig Jahre im gleichen Dorf. Alle kennen ihn. Und er kennt alle. Doch eines Tages das große Erstaunen: so kennen wir ihn gar nicht! Verwunderung, Rätselraten: „Woher hat er das alles?“ Und am Schluss: Anstoß und Ablehnung! So ist es Jesus ergangen, als er in seine Heimatstadt Nazareth zurückkam. Wieso ist das alles so schiefgelaufen? Warum hat Jesus gerade in seiner Heimat so wenig Anklang gefunden? Lag das an Jesus? Oder an den Menschen in Nazareth? Es lohnt sich, dieser Frage nachzugehen.
Mir ist etwas aufgefallen, an das ich früher nicht gedacht hatte. Die Szene, die der Evangelist Markus schildert, hat mich darauf aufmerksam gemacht. Offensichtlich ist Jesus seinen Landsleuten und selbst seiner eigenen Familie und Verwandtschaft dreißig Jahre lang überhaupt nicht aufgefallen. Er hat in Nazareth gelebt wie alle anderen, ist seiner Arbeit nachgegangen, hat am Leben teilgenommen, ohne dass die anderen irgendetwas Besonderes an ihm bemerkt hätten. Diese für mich selber überraschende Beobachtung hat mich zu zwei Überlegungen geführt. Die eine betrifft die Person Jesu, die andere gilt für uns Menschen allgemein.
Jesus war etwa dreißig Jahre alt, als er alles liegen und stehen ließ, Beruf, Familie, Heimat, und ein unstetes Leben eines Wanderpredigers begann. Er wird schnell bekannt, er sammelt Anhänger, Wunderheilungen tragen ihm einen großen Ruf ein. So kommt er auch in seine Heimatstadt, gefolgt von einer Schar seiner Jünger. Als er am Sabbat in der örtlichen Synagoge das Wort ergreift, ist das Erstaunen allgemein. Das ist doch der Zimmermann, der Sohn der Maria. Wir kennen ihn doch, auch seine ganze Verwandtschaft. „Woher hat er das alles?“
Die Leute glaubten, ihn seit eh und je zu kennen. Sie waren mit ihm aufgewachsen, sie hatten nie etwas Besonderes an ihm bemerkt. Und sie waren offensichtlich nicht bereit, sich von ihm positiv überraschen zu lassen.
Diese Beobachtung führt mich zu einer schmerzlichen Feststellung über das menschliche Verhalten, wie es meistens abläuft. Wir neigen dazu, zu glauben, dass wir die anderen kennen. Meist genügt uns ein oberflächlicher Eindruck, um andere zu taxieren, zu beurteilen: Der ist so und so; die ist „eh schon wissen“… Was aber wissen wir wirklich über andere? Diese Frage geht bis hinein in den vertrauten Kreis der eigenen Familie. Es ist uns auch gar nicht möglich, einander bis ins Innerste zu kennen. Wir wissen ja nicht einmal, wer wir selber wirklich sind. Die Bibel sagt uns, dass nur Gott unser Herz ganz kennt. Für den Alltag begnügen wir uns mit den allgemeinen Eindrücken, die wir voneinander und von uns selber haben. Es gibt aber Situationen, in denen wir zu staunen beginnen über unerwartete, positive Seiten anderer Menschen: „Das hätte ich ihm nicht zugetraut!“
In Nazareth waren die meisten von Jesu Landsleuten nicht bereit, sich von Jesus überraschen zu lassen. Sie blieben in ihren gewohnten (Vor-)Urteilen stecken. Und so konnten sie sich nicht darüber freuen, dass in Jesus, mit dem sie so lange zusammengelebt haben, ohne ihn zu kennen, Gott selber unter ihnen gegenwärtig war.
Von dort brach Jesus auf und kam in seine Heimatstadt; seine Jünger folgten ihm nach. Am Sabbat lehrte er in der Synagoge. Und die vielen Menschen, die ihm zuhörten, gerieten außer sich vor Staunen und sagten: Woher hat er das alles? Was ist das für eine Weisheit, die ihm gegeben ist! Und was sind das für Machttaten, die durch ihn geschehen! Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria und der Bruder von Jakobus, Joses, Judas und Simon? Leben nicht seine Schwestern hier unter uns? Und sie nahmen Anstoß an ihm. Da sagte Jesus zu ihnen: Nirgends ist ein Prophet ohne Ansehen außer in seiner Heimat, bei seinen Verwandten und in seiner Familie. Und er konnte dort keine Machttat tun; nur einigen Kranken legte er die Hände auf und heilte sie. Und er wunderte sich über ihren Unglauben. Jesus zog durch die benachbarten Dörfer und lehrte.