Immer häufiger werden öffentliche Reden auch in Gebärdensprache übersetzt, um hörbeeinträchtigten Menschen die Teilnahme zu ermöglichen.
Immer häufiger werden öffentliche Reden auch in Gebärdensprache übersetzt, um hörbeeinträchtigten Menschen die Teilnahme zu ermöglichen.
Gedanken zum Evangelium, von Kardinal Christoph Schönborn, am Sonntag, 5. September 2021 (Markus 7,31-37).
In Wien gibt es die Taubstummengasse. Sie hat eine eigene U-Bahn-Station. Sie ist benannt nach dem „Taubstummeninstitut“, das sich dort befand. Heute hat sich der Sprachgebrauch geändert. Man spricht nicht mehr von Tauben, sondern von Gehörlosen. Und zurecht wird darauf hingewiesen, dass der Ausdruck „taubstumm“ nicht zutrifft, denn Gehörlose können sehr wohl sprechen dank der Gebärdensprache. Immer häufiger werden öffentliche Reden auch in Gebärdensprache übersetzt, um hörbeeinträchtigten Menschen die Teilnahme zu ermöglichen. Das ehemalige Taubstummeninstitut heißt heute „Bundesinstitut für Gehörlosenbildung“. Für manche Gehörlose kann heute durch eine Operation und mit Implantaten das Hören und in der Folge das Sprechen ermöglicht werden.
Und damit sind wir beim heutigen Evangelium. Meist trägt es den Titel: Jesus heilt einen Taubstummen. Doch das entspricht weder den Tatsachen noch dem Text. Tatsache ist, dass Gehörlose nicht stumm sind. Da sie nicht hören, können sie das Sprechen nicht erlernen. Im Text des heutigen Evangeliums heißt es deshalb sehr genau: Sie brachten zu Jesus einen Mann, „der taub war und stammelte“.
Die Menschen, die diesen Mann zu Jesus bringen, teilen offensichtlich nicht die Vorurteile, die jahrhundertelang gegen Gehörbeeinträchtigte bestanden. Sie galten oft als geistig Behinderte. Ich erinnere mich an meine Kinderzeit, wie ein „Taubstummer“ im Dorf von uns Kindern verspottet wurde. Er konnte nicht „normal“ reden und sein Stammeln wurde als Dummheit ausgelegt. Umso mehr berührt mich die Haltung der Leute, die Jesus bitten, er möge diesem Mann die Hände auflegen und ihn heilen.
Beeindruckend ist es, wie Jesus dieser Bitte entspricht. Er nimmt den Mann „beiseite, von der Menge weg“. Er will keine neugierig Herumstehenden. Er schafft für diesen leidenden Menschen einen geschützten Raum, wo er ihm ganz persönlich begegnen kann. Behutsam sind auch die Gesten, mit denen er die Heilung vornimmt. Oft hat Jesus durch ein bloßes Wort die Heilung bewirkt. Hier ist es, als wollte Jesus sein ganzes Mitgefühl mit der Leidensgeschichte dieses Mannes auch körperlich ausdrücken. Er berührt ihm Ohren und Zunge. Sein Blick zum Himmel ist wie eine innige Bitte an Gott, der durch ihn wirkt. Sein Seufzen ist ein Ausdruck des Mitleidens. Sein heilendes Wort ist in Jesu aramäischer Muttersprache überliefert: „Effata! Öffne dich!“
Warum aber verbietet Jesus, davon irgendjemandem zu erzählen? Es kann doch nicht verborgen bleiben, dass hier ein echtes Wunder geschehen ist. Und tatsächlich verbreitet sich die Nachricht überall hin. Jesus geht es nicht um die Sensation. Heilung ist etwas zu Kostbares, um es sofort der öffentlichen Neugierde preiszugeben.
Heilung der Taubheit! Wie dringend ist sie auch heute! Eine Frau schreibt mir: „Ich habe meinen Mann verloren. Er kennt nur mehr seinen Computer. Er spricht kaum mit mir. Er ist wie taub.“ Schmerzlicher Verlust des Zuhörens! Wir haben zwei Ohren und einen Mund. Also sollten wir doppelt so viel zuhören als wir reden. Wie gut tut es, jemanden zu haben, der sich Zeit nimmt zum Gespräch. „Effata! Öffne dich!“ Das Wunder Jesu geschieht auch heute, wo wir die Ohren und das Herz füreinander öffnen. Das ist echt heilsam.
Jesus verließ das Gebiet von Tyrus wieder und kam über Sidon an den See von Galiläa, mitten in das Gebiet der Dekapolis. Da brachten sie zu ihm einen, der taub war und stammelte, und baten ihn, er möge ihm die Hand auflegen. Er nahm ihn beiseite, von der Menge weg, legte ihm die Finger in die Ohren und berührte dann die Zunge des Mannes mit Speichel; danach blickte er zum Himmel auf, seufzte und sagte zu ihm: Effata!, das heißt: Öffne dich! Sogleich öffneten sich seine Ohren, seine Zunge wurde von ihrer Fessel befreit und er konnte richtig reden. Jesus verbot ihnen, jemandem davon zu erzählen. Doch je mehr er es ihnen verbot, desto mehr verkündeten sie es. Sie staunten über alle Maßen und sagten: Er hat alles gut gemacht; er macht, dass die Tauben hören und die Stummen sprechen.