Habe ich wirklich im Herzen angenommen, dass ich einmal alles loslassen muss, mein Hab und Gut und selbst mein Leben? Ich sehe nur einen Weg, wie ich dieses Loslassen einüben kann: die tägliche Dankbarkeit. Nichts ist selbstverständlich.
Habe ich wirklich im Herzen angenommen, dass ich einmal alles loslassen muss, mein Hab und Gut und selbst mein Leben? Ich sehe nur einen Weg, wie ich dieses Loslassen einüben kann: die tägliche Dankbarkeit. Nichts ist selbstverständlich.
Gedanken zum Evangelium, von Kardinal Christoph Schönborn, am Sonntag, 10. Oktober 2021 (Mk 10,17-27)
Die "Gruft" ist eine Einrichtung der Caritas der Erzdiözese Wien. Sie begann vor vielen Jahren auf Initiative der Pfarre Mariahilf im 6. Bezirk, im Keller der Kirche, in deren Gruft. Obdachlosen wurde Essen, Waschgelegenheit, ein einfaches Nachtquartier angeboten. Inzwischen ist die "Gruft" nicht nur im Kellergewölbe. Sie hat ein eigenes Haus neben der Kirche bekommen. Die Zahl der Hilfesuchenden ist gewachsen, und das zeigt an, dass Armut mitten unter uns nicht weniger wird.
Bei einem Besuch in der Gruft bin ich mit einem Mann ins Gespräch gekommen, der gut gekleidet und gepflegt aussah. Er erzählte mir, dass er mehrere Tage um die Gruft herumgegangen sei ehe er den Schritt tat, dort einzutreten und um Hilfe zu bitten. Er hatte Arbeit und Wohnung verloren und stand auf der Straße. Er schämte sich zutiefst, seine Not anzuerkennen und Hilfe anzunehmen. An ihn musste ich denken beim Nachsinnen über das heutige Evangelium. Armut wird als Schande empfunden, Reichtum als Glück. Wer genügend besitzt, dem geht es gut. Wer nichts hat, dem geht es schlecht.
Dem jungen Mann, der da auf Jesus zuläuft, geht es gut. Er hat ein großes Vermögen. Aber er scheint zu spüren, dass das noch nicht alles ist. Er hat mehr als genug zum Leben. Aber er weiß, dass er einmal sterben wird und dass er im Tod nichts mitnehmen kann von dem, was er jetzt besitzt. Deshalb seine ehrliche Frage an Jesus: "Guter Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu erben?" Die Antwort Jesu ist dankbar einfach: "Du kennst doch die Gebote". Halte sie, dann wirst du das ewige Leben erlangen. Ist es jugendliche Selbstsicherheit, dass er Jesus spontan antwortet: "Alle diese Gebote habe ich von Jugend an gehalten."? Jesus kritisiert ihn nicht. Im Gegenteil, er sieht ihn liebevoll an und umarmt ihn. "Eines fehlt dir noch…" Es ist eine ganz persönliche Einladung an diesen reichen jungen Mann: Lass alles los, gib es her, schenke was du hast den Armen und folge mir nach.
Hat da Jesus zu viel verlangt? Wie ist die Einstellung Jesu zum Reichtum? Ist ihm jeder Besitz ein Dorn im Auge? Oder spricht hier Jesus eine Erfahrung an, die sich täglich neu bestätigt, dass nämlich im Reichtum große Gefahren lauern? Wer hat, ist in Versuchung, immer noch mehr haben zu wollen. Besitz kann überheblich machen. Die Gier nach Geld ist unersättlich. Das Glück wird im Lottotreffer gesucht. Auf all das hin hat Jesus sein sprichwörtlich gewordenes Wort geprägt: "Leichter geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt."
Kein Wunder, dass die Jünger Jesu darüber entsetzt sind. Sie sind so ehrlich, zuzugeben, dass wir alle an irdischen Gütern hängen und sie nicht verlieren wollen. Wer von uns möchte freiwillig in die "Gruft" gehen? Wenn in den Himmel nur der kommen kann, der alles Gut und Haben hergibt, "wer kann dann noch gerettet werden?" Oft frage ich mich, ob die Antwort Jesu auf das Erschrecken der Jünger wirklich bei mir ganz angekommen ist: Für Menschen ist es unmöglich, dass sie sich selber retten. Bei Gott ist aber alles möglich. Ich hänge doch sehr am Leben. Habe ich wirklich im Herzen angenommen, dass ich einmal alles loslassen muss, mein Hab und Gut und selbst mein Leben? Ich sehe nur einen Weg, wie ich dieses Loslassen einüben kann: die tägliche Dankbarkeit. Nichts ist selbstverständlich. Meint Jesus das, wenn er die selig nennt, die "arm sind im Geist"?
In jener Zeit lief ein Mann auf Jesus zu, fiel vor ihm auf die Knie und fragte ihn: Guter Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu erben? Jesus antwortete: Warum nennst du mich gut? Niemand ist gut außer der eine Gott. Du kennst doch die Gebote: Du sollst nicht töten, du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsch aussagen, du sollst keinen Raub begehen; ehre deinen Vater und deine Mutter! Er erwiderte ihm: Meister, alle diese Gebote habe ich von Jugend an befolgt. Da sah ihn Jesus an, umarmte ihn und sagte: Eines fehlt dir noch: Geh, verkaufe, was du hast, gib es den Armen und du wirst einen Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach! Der Mann aber war betrübt, als er das hörte, und ging traurig weg; denn er hatte ein großes Vermögen. Da sah Jesus seine Jünger an und sagte zu ihnen: Wie schwer ist es für Menschen, die viel besitzen, in das Reich Gottes zu kommen! Die Jünger waren über seine Worte bestürzt. Jesus aber sagte noch einmal zu ihnen: Meine Kinder, wie schwer ist es, in das Reich Gottes zu kommen! Leichter geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt. Sie aber gerieten über alle Maßen außer sich vor Schrecken und sagten zueinander: Wer kann dann noch gerettet werden? Jesus sah sie an und sagte: Für Menschen ist das unmöglich, aber nicht für Gott; denn für Gott ist alles möglich.