Jericho ist die tiefstgelegene Stadt der Welt, etwa 250 Meter unter dem Meeresspiegel. Jesus ist oft durch Jericho gekommen.
Jericho ist die tiefstgelegene Stadt der Welt, etwa 250 Meter unter dem Meeresspiegel. Jesus ist oft durch Jericho gekommen.
Gedanken zum Evangelium, von Kardinal Christoph Schönborn, am Sonntag,
24. Oktober 2021 (Markus 10,46-52).
Jericho ist die tiefstgelegene Stadt der Welt, etwa 250 Meter unter dem Meeresspiegel. Jesus ist oft durch Jericho gekommen. Der Weg von Galiläa nach Jerusalem führt entweder über das Hochland, durch Samarien, heute das palästinensische Autonomiegebiet. Oder die Pilger gehen durch die Jordansenke bis nach Jericho, von wo dann der Weg steil hinauf ins Bergland von Judäa führt, nach Jerusalem, mit einem Höhenunterschied von gut 1000 Metern.
Jesus ist unterwegs zum Osterfest in Jerusalem, und mit ihm seine Jünger und eine große Menschenmenge. Die Atmosphäre ist spannungsgeladen. Viele fragen, ob Jesus sich in Jerusalem als Messias offenbaren wird. Alle erzählen von seinen Wundern und davon, dass er das Reich Gottes als ganz nahe angekündigt hat. Auch ein blinder Bettler hat von Jesu Heilungen gehört, Bartimäus, der Sohn des Timäus. Wer kennt schon den Namen der Bettler? Meist sitzen sie unbeachtet am Straßenrand. Dabei dürfte Bartimäus bessere Zeiten gekannt haben. Erst als er durch eine der damals (und heute noch) häufigen Augenkrankheiten erblindet war, ist er zum Bettler geworden, hilflos angewiesen auf die Wohltätigkeit der anderen.
Von Jesus erhofft er die Wohltat, die seinem Leben wieder echte Chancen geben kann: das Augenlicht! Und so ruft er laut und ungeniert nach Jesus: „Hab Erbarmen mit mir!“ Jesus hört sein Schreien und ruft ihn zu sich. Warum fragt er ihn: „Was willst du, dass ich dir tue?“ Die Antwort überrascht nicht: „Rabbuni, lieber Meister, ich möchte wieder sehen können.“ Jesus heilt ihn und Bartimäus schließt sich den Menschen an, die mit Jesus auf dem Weg sind. Er wird ein Jünger Jesu.
Es gibt eine ganz wichtige Regel für das Lesen des Evangeliums. Eigentlich sollten wir sie immer anwenden. Versetze dich in die eben geschilderte Szene, als wärst du selber dabei gewesen. In unserem heutigen Evangelium kann ich mich einfach unter die Menschenmenge mischen. Wie hätte ich auf das lautstarke Schreien des Bartimäus reagiert? Hätte ich den lästigen Bettler zum Schweigen gebracht? Und plötzlich bin ich in der Gegenwart: Wo will ich jemanden nicht zu Wort kommen lassen? Wann sind mir Hilferufe peinlich, stören sie meinen Alltag?
Noch wichtiger ist es, dass ich mich selber in die Person des Bettlers hineindenke. Ich versuche nachzuempfinden, was es heißt, als Bettler am Straßenrand zu sitzen. Ganz wird es mir nicht gelingen, denn ich habe noch nie eine solche Not hautnah selber durchlebt. Aber als Menschen haben wir die Gabe der Einfühlung, und das Betrachten des Evangeliums hilft uns, diese Gabe zu pflegen und zu entwickeln. Es ist eine Schule der Mitmenschlichkeit.
Noch persönlicher wird meine Betrachtung des Evangeliums, wenn ich mit Bartimäus bitte: „Ich möchte wieder sehen können.“ Was verstellt mir den Blick auf mich selbst, auf die anderen, die Wirklichkeit? Wo sind meine blinden Flecken? Wo habe ich verlernt, die Augen aufzumachen? Bin ich blind für die Schönheit der Schöpfung? Und für das Gute in den Menschen? Habe ich schon Gott gedankt für das Geschenk des Augenlichts?
So hilft mir das Evangelium von Bartimäus, meine innersten Bitten an Gott zu erspüren. Jesus hat sich selber als das Licht der Welt bezeichnet. Er will uns nicht in unserer Blindheit belassen. Bartimäus ist mit Jesus von Jericho nach Jerusalem mitgegangen. Ich versuche, mir sein Glück und seine Freude vorzustellen. Und wünsche sie auch mir.
Sie kamen nach Jericho. Als er mit seinen Jüngern und einer großen Menschenmenge Jericho wieder verließ, saß am Weg ein blinder Bettler, Bartimäus, der Sohn des Timäus. Sobald er hörte, dass es Jesus von Nazaret war, rief er laut: Sohn Davids, Jesus, hab Erbarmen mit mir! Viele befahlen ihm zu schweigen. Er aber schrie noch viel lauter: Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir! Jesus blieb stehen und sagte: Ruft ihn her! Sie riefen den Blinden und sagten zu ihm: Hab nur Mut, steh auf, er ruft dich. Da warf er seinen Mantel weg, sprang auf und lief auf Jesus zu. Und Jesus fragte ihn: Was willst du, dass ich dir tue? Der Blinde antwortete: Rabbuni, ich möchte sehen können. Da sagte Jesus zu ihm: Geh! Dein Glaube hat dich gerettet. Im gleichen Augenblick konnte er sehen und er folgte Jesus auf seinem Weg nach.