Ist das menschliche Herz so wankelmütig, dass Zustimmung und Ablehnung, Liebe und Hass oft ganz nahe beieinander wohnen?
Ist das menschliche Herz so wankelmütig, dass Zustimmung und Ablehnung, Liebe und Hass oft ganz nahe beieinander wohnen?
Gedanken zum Evangelium, von Kardinal Christoph Schönborn, am Sonntag, 30. Jänner 2022 (Lukas 4,21-30).
Alles hatte ganz gut begonnen. Wie konnte es nur zu einem so radikalen Stimmungsumschwung kommen? Aus Zustimmung wird Ablehnung, aus Bewunderung ein aktiver Mordversuch. So ging es Jesus in seiner Heimat Nazareth. So läuft es bis heute immer wieder. Am Anfang sieht alles positiv aus, am Ende steht oft Hass bis zum Äußersten. Ein solcher Wandel kann viele Ursachen haben. Wir erleben ihn zur Zeit in der Pandemie. Anfangs war die Solidarität groß. Gegenseitige Hilfe, Rücksichtnahme, politische Einmütigkeit. Je länger Corona dauert, desto schwerer wird es, die anfängliche Gemeinsamkeit aufrecht zu erhalten. Die Ungeduld nimmt zu, bei manchen steigert sie sich bis zur Gewaltbereitschaft. Was sich im Großen abspielt, geschieht noch häufiger im persönlichen Bereich. Immer wieder lesen wir fassungslos von Bluttaten an einst geliebten Personen. Ist das menschliche Herz so wankelmütig, dass Zustimmung und Ablehnung, Liebe und Hass oft ganz nahe beieinander wohnen?
Warum hat Jesus in seiner eigenen Heimat solches erleben müssen? Was steht hinter dem radikalen Stimmungsumschwung, der beinahe mit dem gewaltsamen Tod Jesu geendet hätte? Die Antwort ist nicht einfach. Hat Jesus seine Landsleute provoziert? Hat er sie überfordert? Oder lag es an den Bewohnern von Nazareth, die sich von Jesus anderes erwartet hätten? War das Ganze, wie so oft im Leben, eine Serie von Missverständnissen, die nicht rechtzeitig aufgeklärt werden konnten?
Jesus ging am Sabbat zum Gottesdienst in die Synagoge. So war er es von Kindheit an gewohnt. Diesmal aber war es eine besondere Situation. Er hatte seit einiger Zeit Nazareth verlassen und in den Dörfern und Städten von Galiläa zu predigen begonnen. Von Wundern wurde berichtet, die durch ihn geschahen. So waren die Menschen gespannt, ihn zu hören, als er wieder nach Nazareth kam. Man reicht ihm die Schriftrolle und er liest daraus einen Abschnitt vor, der vom kommenden Messias und von seiner Sendung spricht. Das war nichts Ungewöhnliches, warteten doch die Juden auf dessen Kommen.
Jesus aber sagt unmissverständlich, dass dieses Warten ein Ende hat, und zwar heute, hier und jetzt: „Heute hat sich dieses Schriftwort erfüllt.“ Zuerst scheint sich alles zum Positiven zu wenden: „Alle stimmten ihm zu“ und staunten über seine Worte. Doch dann regt sich Zweifel: „Ist das nicht Josefs Sohn?“ Den kennen wir doch! Für wen hält sich Jesus? Für den Messias? Statt die aufkommende Unruhe zu beschwichtigen, provoziert Jesus sie noch mehr. Sie sollen nicht glauben, dass er ihnen jetzt ein Schauwunder darbietet, um sie zu überzeugen: „Kein Prophet wird in seiner Heimat anerkannt.“
Jesus beansprucht also vor den Leuten, unter denen er als einfacher Handwerker aufgewachsen ist, er sei ein Prophet. Mehr noch: Er stellt sich in eine Reihe mit den großen Propheten des Alten Bundes, Elija und Elischa. Und er erinnert seine Landsleute daran, dass diese beiden Propheten nicht für die eigenen Leute Wunder gewirkt haben, sondern für Heiden, Fremde. Das alles war zu viel. Die Wut auf Jesus entlädt sich. Doch er geht souverän mitten durch die Menge. Er ist nie mehr nach Nazareth zurückgekehrt.
Hat Jesus die Seinen überfordert? Überfordert er nicht immer noch? Denn bis heute geht es um die eine Frage: Ist er der Messias, der Sohn Gottes? An ihm scheiden sich die Geister. Geht er auch von uns weg? Ich bete oft: „Herr, bleibe bei uns!“
Da begann er, ihnen darzulegen: Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt. Alle stimmten ihm zu; sie staunten über die Worte der Gnade, die aus seinem Mund hervorgingen, und sagten: Ist das nicht Josefs Sohn? Da entgegnete er ihnen: Sicher werdet ihr mir das Sprichwort vorhalten: Arzt, heile dich selbst! Wenn du in Kafarnaum so große Dinge getan hast, wie wir gehört haben, dann tu sie auch hier in deiner Heimat! Und er setzte hinzu: Amen, ich sage euch: Kein Prophet wird in seiner Heimat anerkannt. Wahrhaftig, das sage ich euch: In Israel gab es viele Witwen in den Tagen des Elija, als der Himmel für drei Jahre und sechs Monate verschlossen war und eine große Hungersnot über das ganze Land kam. Aber zu keiner von ihnen wurde Elija gesandt, nur zu einer Witwe in Sarepta bei Sidon. Und viele Aussätzige gab es in Israel zur Zeit des Propheten Elischa. Aber keiner von ihnen wurde geheilt, nur der Syrer Naaman. Als die Leute in der Synagoge das hörten, gerieten sie alle in Wut. Sie sprangen auf und trieben Jesus zur Stadt hinaus; sie brachten ihn an den Abhang des Berges, auf dem ihre Stadt erbaut war, und wollten ihn hinabstürzen. Er aber schritt mitten durch sie hindurch und ging weg.