„Meine Lebensgeschichte ist harmlos gegen die anderer im Maßnahmenvollzug“, sagt Markus Drechsler, „ich kenne jemanden, der wegen einer Drohung gegen seinen Nachbarn 39 Jahre gesessen ist.“
„Meine Lebensgeschichte ist harmlos gegen die anderer im Maßnahmenvollzug“, sagt Markus Drechsler, „ich kenne jemanden, der wegen einer Drohung gegen seinen Nachbarn 39 Jahre gesessen ist.“
Markus Drechsler hat mehr als fünf Jahre seines Lebens im Gefängnis verbracht. Den Großteil davon im Maßnahmenvollzug, der „Sonderanstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher“. Und: „Unschuldig“, wie er sagt.
Eigentlich hat seine eigene Lebensgeschichte ganz harmonisch begonnen. Markus Drechsler ist das Jüngste von fünf Kindern, ein Nachzügler, der Vater ist Journalist, die Mutter Hausfrau.
Er wächst in Wieden auf, dem 4. Bezirk von Wien. „Gleich ums Eck der Justizanstalt Mittersteig bin ich in den Kindergarten und ins Gymnasium gegangen“, sagt Drechsler. Computer faszinieren ihn. Mit neun bekommt er den ersten PC, mit 17 bricht er das Gymnasium ab, beginnt stattdessen eine Lehre – wird IT-Fachmann. Wenn das System am Computer zusammenbricht, kann er es wieder reparieren.
Mitte 30, Drechsler hat einen guten Job, nette Kollegen, ein solides Leben, beginnt seine Welt langsam zusammenzubrechen.
„Begonnen hat alles mit einer Frau“, sagt Drechsler. Kennengelernt über die Arbeit wächst er nach und nach in ihre Familie hinein – es ist eine Großfamilie im Gemeindebau.
Seine Freundin hat bereits fünf Kinder und einen Ex-Mann, „der keine Alimente zahlt, mehr Alkohol trinkt, als er vertragen kann, und mehr Geld im Online-Glücksspiel ausgibt, als in der Geldbörse war“, sagt Drechsler. Als der Mann gewalttätig wird, wirft sie ihn raus. Hilfe kommt von Eltern und Verwandten, die im selben Gemeindebau wohnen.
Es ist Sommer 2009, als das Leben von Markus Drechsler die Richtung ändert. Beim Bowlen bekommt seine Freundin einen Schlaganfall. 35 Jahre ist sie damals alt.
Wochenlang wird sie im Koma liegen. Dann steht der Vater vor der Tür – mit einem Antrag auf Obsorge für alle fünf Kinder. Den Antrag der Großeltern auf das Sorgerecht lehnt die Justiz ab. Das Gericht entscheidet zugunsten des leiblichen Vaters. Und der zieht in die Wohnung seiner ehemaligen Partnerin ein. Die ist in der Zwischenzeit aus dem Koma erwacht, erkennt aber weder Markus Drechsler noch ihre Kinder. Die 35-jährige Frau wird zum Pflegefall, kommt in ein Pflegeheim.
Für Markus Drechsler könnte die Geschichte hier enden. Aber, sagt er: „Alle einfach so zurückzulassen, das habe ich nicht geschafft.“
Drechsler hält Kontakt zu den Eltern, telefoniert regelmäßig mit den Kindern. „Ich habe mitbekommen, dass der Vater immer wieder ausrastet, wenn er im Glücksspiel verliert, zu viel Alkohol trinkt, nichts zu essen macht.“
Drechsler informiert immer wieder das Jugendamt. Aber die Obsorge bleibt beim Vater. So wird Markus Drechsler selbst aktiv. „Eines Tages ruft mich eines der Kinder ganz fertig an, weil dem jüngsten Kind gerade der Fernseher vom Vater nachgeschossen worden ist und sein Bruder jetzt am Rücken Schmerzen hat.
In dem Moment hab ich ins Telefon gesagt: Mir reicht’s. Morgen geh ich zur Polizei.“ Doch die kommt ihm zuvor.
Noch am selben Tag stehen zwei Polizisten vor Drechslers Tür. „Weißt eh, warum wir da sind?“, fragt einer der Polizisten. „Wegen der Kinder?“, sagt Drechsler. „Handschellen brauchen wir eh keine, oder?“ „Ich war vollkommen verwirrt“, sagt Drechsler.
Erst nach und nach erfährt er, worum es eigentlich geht: Drechsler kommt in Untersuchungshaft in die Justizanstalt Josefstadt. Der Vorwurf: zwei der fünf Kinder sexuell missbraucht zu haben. „Das ist lächerlich“, denkt sich Drechsler, „der leibliche Vater wird mich angeschwärzt haben. Das wird sich bald aufklären.“
Zehn Monate sitzt Drechsler in U-Haft. Dann folgt die Hauptverhandlung. Der Richter glaubt Drechsler nicht, Drechslers eigener Anwalt glaubt Drechsler nicht. In einer Verhandlungspause empfiehlt ihm sein Anwalt: „Wenn Sie gestehen, können wir das Strafmaß auf dreieinhalb Jahre plus Maßnahmenvollzug herunter bekommen.“
Was der Maßnahmenvollzug ist, weiß Drechsler zu dem Zeitpunkt noch nicht. Eingeführt wurde er 1975 in Österreich. Mit dem Ziel die Gesellschaft vor „geistig abnormen Rechtsbrechern“ zu schützen und den Straffällig-Gewordenen gleichzeitig zu helfen.
Was Drechsler damals auch noch nicht weiß: Menschen im Maßnahmenvollzug können unbegrenzt festgehalten werden – über die Strafe hinaus.
Drechsler bekennt sich schuldig. Wird zu dreieinhalb Jahren plus Maßnahme verurteilt – und sitzt fünfeinhalb Jahre im Gefängnis, einen Großteil davon in Wien-Mittersteig, der „Sonderanstalt für zurechnungsfähige geistig abnorme Rechtsbrecher“.
Die Stimmung dort beschreibt er als kollektive Depression. „Ich hatte jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder ich verbringe meine Zeit hier vor dem Fernseher, oder ich versuche etwas möglichst Sinnvolles zu machen.“ Markus Drechsler beginnt Rechtswissenschaften zu studieren.
Es vergehen Jahre, bis eines Tages derselbe Polizist, der ihn 2010 aus der Wohnung in die U-Haft geholt hat, abermals vor Markus Drechsler steht: „Weißt eh, warum ich da bin?“, fragt er wieder. „
Nein, aber ich vermute, es ist was passiert?“, sagt Drechsler. Der leibliche Vater der fünf Kinder hat eine neuerliche Anzeige gemacht: Drechsler soll weitere zwei Kinder ebenfalls missbraucht haben.
Doch diesmal wendet sich das Blatt: Die Angaben stellen sich als frei erfunden heraus. „Ich habe vorher erfahren, dass der Staat eine Entschädigung an die Opfer gezahlt hat, 12.000 Euro. Das Geld ist natürlich an den Erziehungsberechtigten gegangen, den leiblichen Vater. Jetzt scheint es ihm ausgegangen zu sein, und er hat wieder versucht mich anzuklagen“, so erklärt sich Drechsler die Situation.
Und er stellt noch etwas anderes fest: „Bei diesem zweiten Verfahren habe ich eines gemerkt: die Gesetze waren dieselben, nur unterschiedliche Menschen haben agiert. Der Richter war diesmal sehr engagiert wirklich herauszufinden, was passiert ist. Und ich hatte eine Anwältin, die sich wirklich ausgekannt hat.“ Drechsler wird in diesem Fall freigesprochen.
Heute kämpft Markus Drechsler um eine Wiederaufnahme seines ersten Verfahrens – und Drechsler setzt sich auch für andere Insassen im Maßnahmenvollzug ein, engagiert sich für ihre Rechte.
2016 gründet er den Verein SIM – „Selbst- und Interessensvertretung Maßnahmenvollzug“. Mittlerweile ist der Verein auf mehr als 60 ehrenamtliche Mitarbeiter herangewachsen – bisher konnten rund 100 Untergebrachte und 50 Angehörige betreut werden. Laut Justizministerium sitzen aktuell 1009 Menschen in Österreich im Maßnahmenvollzug. Fast viermal so viele wie im Jahr 1990.
Schon seit längerem wird in Österreich über eine Reform des Maßnahmenvollzugs diskutiert. Bereits 2015 hat der damalige Justizminister Wolfgang Brandstetter von einer Expertenkommission Reformen erarbeiten lassen. In diesem Experten-Bericht ist auch eines zu lesen: Vier von fünf Menschen im Maßnahmenvollzug sind fälschlich dort eingewiesen – „im besten Fall“. Geworden ist aus den Reformen bisher nichts. Aber auch Justizminister Josef Moser hat bereits angekündigt, den Maßnahmenvollzug zu modernisieren.
Markus Drechsler hofft darauf, dass sich bald schon etwas ändert: „Ich bin guter Dinge, dass jetzt zu Ostern, wie vom Justizminister angekündigt, endlich ein Reformvorschlag in die Begutachtung kommt.“
Fast drei Jahre ist es mittlerweile her, seit Markus Drechsler wieder in Freiheit lebt. „Das Schlimmste im Gefängnis war das Fremdbestimmtsein“, erinnert er sich. Kurz nach der Entlassung lernt er über drei Ecken eine Frau kennen – und verliebt sich. Nach den ersten zwei Treffen erzählt er ihr von seiner Geschichte. „Ich habe mir gedacht, wenn sie die Richtige ist, dann wird sie das verstehen und wird bleiben.“
Heute sind die beiden verlobt, Mitte Mai wollen sie heiraten. Mit seiner Vergangenheit im Gefängnis hadert Markus Drechsler nicht: „Wäre das alles nicht passiert in meinem Leben, dann würde ich jetzt nicht hier sitzen. Im Büro meines Vereins. Und ich hätte nicht das Leben, das ich mir eigentlich immer gewünscht habe.“
„Ich kann Ungerechtigkeiten nicht leiden“. Die Sendung von Gerlinde Petric-Wallner hören Sie am Samstag, 23. März, von 19 bis 20 Uhr.
DaCapo am Mittwoch, 27. März, von 19 bis 20 Uhr.
Verein SIM – „Selbst- und Interessensvertretung Maßnahmenvollzug“
weitere Lebens- und Glaubenszeugnisse