Langjährigen ORF-Moskau-Korrespondentin Susanne Scholl und Ostkirchenexperten Prof. Thomas Nemeth analysierten in "Langer Nacht der Kirchen" den Ukraine-Krieg und die Rollen der orthodoxen Kirchen
Mit unbedingtem Pazifismus stößt man leider beim Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine an unüberwindbare Grenzen. Im Moment könne man Wladimir Putins Krieg nur mit Waffen stoppen. Das war eine der Kernaussagen bei einer Podiumsdiskussion mit der langjährigen ORF-Moskau-Korrespondentin Susanne Scholl und dem Ostkirchenexperten Prof. Thomas Nemeth im Rahmen der "Langen Nacht der Kirchen" im Wiener Dominikanerkloster. Beide warnten vor den Folgen, wenn es nicht gelinge, Putin zu stoppen, der längst in einer irrationalen Parallelwelt lebe, wie es Scholl formulierte. Nemeth sprach u.a. von der ethischen Pflicht, die sich verteidigende Ukraine auch mit Waffen zu unterstützen.
Mit Putin zu verhandeln sei derzeit völlig sinnlos, befand Scholl. Hier könnte auch der Papst nichts ausrichten, zeigte sie sich überzeugt. Prof. Nemeth bekräftigte in diesem Zusammenhang seinen kritischen Blick auf die vatikanische Diplomatie bzw. auch die Position des Papstes. Es werde zu wenig zwischen Opfern und Tätern unterschieden. Das "Kreuz des Täters" und das "Kreuz des Opfers" ließen sich nicht so leicht zusammenführen. Versöhnung sei nötig, doch der Zeitpunkt sei dafür noch nicht gekommen. Zuallererst müsse die Gewalt enden. "Wenn es um Gewalt geht, muss die Opferperspektive im Fokus stehen", mahnte Nemeth . Er verwies in diesem Zusammenhang auch auf entsprechende Aussagen von Swjatoslaw Schewtschuk, Großerzbischof der ukrainischen griechisch-katholischen Kirche, in der Nemeth selbst auch Priester ist. Auch Papst Franziskus sollte deutlicher Position gegen das Unrecht beziehen, befand er.
Wie Susanne Scholl weiter sagte, habe Putin große Angst vor der ukrainischen Demokratiebewegung und einem Überschwappen derselbigen auf Russland. Schließlich habe Putin schon vor 20 Jahren den Zerfall der Sowjetunion als die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Ein Großrussland mit Präsident Putin in der Nachfolge von Zar Peter dem Großen sei ohne die Ukraine nicht denkbar.
Kein gutes Haar ließen Scholl und Nemeth am Moskauer Patriarchen Kyrill, der den Krieg Putins ideologisch rechtfertige. Dessen "Hirngespinste" hätten freilich mit dem Evangelium überhaupt nichts zu tun, so Nemeth. Letztlich sei die Nähe bzw. Kollaboration der russisch-orthodoxen Kirchenspitze mit der Staatsmacht auch nichts Neues, ergänzte Scholl. Das habe es auch schon zu Sowjetzeiten gegeben und habe sich danach vor allem auch in der Person Kyrills fortgesetzt. Schließlich habe dieser auch für den Geheimdienst gearbeitet und sich persönlich sehr bereichert. Von der obersten Kirchenhierarchie unterscheiden müsse man freilich die vielen einfachen Priester, so Scholl.
Dass Metropolit Hilarion (Alfejew), die bisherige Nummer zwei im Moskauer Patriarchat und Leiter des kirchlichen Außenamts dieser Tage seinen Posten verlor und nach Budapest versetzt wurde, müsse man ihm fast schon positiv anrechnen, mutmaßte Scholl über einen Richtungsstreit im Moskauer Patriarchat. Hilarion hatte sich zwar nie offen gegen den Krieg ausgesprochen, war aber stets sehr zurückhaltend geblieben und gehöre sicher nicht zur Fraktion der Kriegstreiber im Patriarchat, so Scholl.
Möglicherweise habe Hilarion sogar noch Glück gehabt, "dass er nicht im Gefängnis landet", sagte die Journalistin. In Russland werde man inzwischen auch für den leisesten Protest gegen den Krieg bereits verhaftet. Eine Freundin vor Ort habe ihr die Situation so beschrieben: "Wir leben alle in einem großen Gefängnis."
Viele Menschen in Russland hätten auch keine anderen Informationen als jene der staatlichen Medien und wollten vor allem ihre Ruhe. Sie wünschten, mit dem Krieg, der ja nicht einmal als solcher bezeichnet werden darf, nichts zu tun zu haben.
Wie es mit der Orthodoxen Kirche in der Ukraine weitergehen wird, wagte Prof. Nemeth nicht zu prognostizieren. Nachdem sich die Ukrainisch-orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats (UOK) von der russischen Mutterkirche vor wenigen Tagen losgesagt hat, sei deren Status unklar. Eine große moskauhörige orthodoxe Kirche werde es in der Ukraine künftig aber wohl nicht mehr geben. Ob es auf der anderen Seite aber zu einer Vereinigung der UOK mit der selbstständigen Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU) kommen könnte, sei derzeit völlig ungewiss.