Jean Vanier bei einem multi-nationalen Jugendtreffen in Trier (2009)
Jean Vanier bei einem multi-nationalen Jugendtreffen in Trier (2009)
In geistiger Verwandtschaft zu Papst Franziskus und dessen „Kirche der Armen“: Die Botschaft von Jean Vanier und sein Wirken haben seit 1964 das Leben vieler Menschen, aber auch das Gesicht von Kirche und Gesellschaft verändert.
Eine Würdigung aus Anlass der Verleihung des „Templeton-Preises“.
Sie wurden am 18. Mai mit dem Templeton-Preis ausgezeichnet. Welche Bedeutung hat der Preis für Sie?
Jean Vanier: Was mich glücklich macht, ist, dass der Preis die Menschen dazu führt, nicht mich, sondern die Botschaft der „Arche“ zu sehen.
Diese ist sehr einfach: Menschen mit einer Behinderung, speziell mit einer intellektuellen, haben der Welt etwas zu geben und zu sagen. Sie sind wichtig. Zu lange wurden sie in unseren Ländern beiseitegeschoben.
In Wahrheit sind sie großartig: Einfach leben dürfen, ein wenig verrückt sein dürfen – hätten wir das nicht alle nötig? Sobald wir mit ihnen in Beziehung treten, beginnen wir, uns zu verwandeln.
Sie lehren uns, dass das Wesentliche im Leben ist: zu lieben, und dass uns dies verwandelt.
Deshalb hoffe ich, dass durch diesen Preis, auch durch dieses Interview, die damit verbundene Öffentlichkeit, die Menschen entdecken, dass Menschen mit Beeinträchtigung keine armen Hascherl sind, die sie befürsorgen müssen, sondern dass sie eine Botschaft für uns haben.
Pränataldiagnostik und Abtreibung suggerieren, eine Welt ohne Menschen mit Behinderung sei eine bessere Welt. Was meinen Sie dazu?
Jean Vanier: Die Frage beschreibt das Ringen zwischen dem, was wirtschaftlich, und dem, was menschlich ist. Vom Wirtschaftlichen her gesehen sagt man: Das kommt uns zu teuer. Aber wo ist der menschliche Standpunkt?
Wir leben in einer Welt, in der es schon zu viel Gewalt gibt, in der zu viele gegeneinander stehen. Es gibt zu viele Situationen, in denen wir nur auf wirtschaftliche Seite schauen. Das Wichtigste für jede Regierung ist, denke ich, dass sie darauf schaut: Jeder Mensch, gleich welches seine Behinderung ist, ist wichtig und hat den gleichen Wert.
Die UN-Konvention zu den Rechten von Menschen mit Behinderung hält fest, dass niemand wegen einer Behinderung benachteiligt werden darf.
Die Umsetzung dieser Konvention, die ja auch die Schaffung von Barrierefreiheit bis 1. 1. 2016 vorsieht, sorgt für einigen Unmut – sie kostet Geld.
Jean Vanier: Was die UNO sagt, ist wichtig. Das Problem danach ist, weiter zu diskutieren, was das bedeutet: Jeder Mensch ist gleich wichtig.
Wir leben in einer Welt der Konkurrenz; das Einzige, was wirklich zählt, ist die Produktivität.
Wenn man die Welt so sieht, schließt man aber alle aus, die nicht produktiv sind. Ist das nicht auch unser Problem mit den Flüchtlingen und vielen anderen Fragen, wo es um arm und reich geht?
Jesus spricht davon im Gleichnis vom armen Lazarus vor der Tür des Reichen.
Davon spricht Papst Franziskus, das ist auch die Idee des „Jahres der Barmherzigkeit“: dass jeder von uns sich ändert und auf die zugeht, die am wenigsten geachtet sind.
Das sind Menschen, die in Einrichtungen eingeschlossen sind, solche, die ihren Platz nicht finden, verletzte Familien, die nicht mehr wissen, wie es weiter geht.
Jesus zeigt uns einen Weg zum Frieden: einander lieben und für die Einheit arbeiten. Hören wir als Jünger Jesu diese Botschaft! Treten wir, jeder von uns auf seine Weise und so, wie wir es können, mit Menschen mit Behinderung in Beziehung, mit Menschen, die sich ausgeschlossen fühlen!
Zum Muttertag haben wir viele Ratschläge gehört, wie auch Mütter sich psychologisch richtig verhalten sollen, in innerer Balance, wie sie sich abgrenzen sollten... Aber wo finden wir in dieser Welt die Gnade, die zur Liebe befähigt?
Jean Vanier: Das ist eine große Frage, die in die Begegnung mit Gott gehört. Für mich ist das wichtigste: zuerst mit Jesus in Beziehung treten.
Das Christentum ist keine Gesetzes-Religion, sondern eine der Liebe. Aber unsere Kultur ist sehr verkopft, man muss Erfolg haben und gewinnen. In einer solchen Kultur werden die, die schwächer sind, gerne an den Rand geschoben.
Deshalb ist die Botschaft Jesu so wichtig: unsere Herzen öffnen, damit Kopf und Herz wieder zusammenfinden, und dass wir wieder jeden lieben lernen, wie er ist.
Einander lieben heißt nicht zuerst, Dinge füreinander zu tun, sondern dem anderen zu offenbaren: Du bist schön, bist wichtig, du bist wertvoll.
Ich denke da an Francis, einen Jungen mit einer geistigen Beeinträchtigung, der in einer Kirche in Paris seine Erstkommunion feierte. Nach der Messe sagte der Patenonkel zu seiner Mutter: Wie war die Feier schön! Traurig ist nur, dass Francis nichts davon verstanden hat. Die Worte des Bruders haben der Mutter sehr weh getan.
Der Junge sah die Tränen in ihren Augen und sagte: Mama, mach dir keine Sorgen. Jesus liebt mich, wie ich bin. – Vielleicht ist dies das Wesentliche: Wiederentdecken, was es heißt, von Gott geliebt zu sein, wie wir sind.
Was bedeuten die Gemeinschaften der „Arche“ und die Bewegung „Glaube und Licht“ für Kirche und Gesellschaft heute?
Jean Vanier: Sie helfen uns, dieses Wesentliche wiederzuentdecken. Nicht einfach nur in der eigenen Familie. Solange man in seinem Bereich bleibt, geschieht nicht viel.
Wenn wir mit einem Menschen mit Beeinträchtigung in Beziehung treten, höre ich immer diesen schönen Satz aus dem Evangelium: Wenn ihr ein Gastmahl gebt, ladet nicht eure Familie ein oder die reichen Nachbarn oder Freunde, sondern die Armen, Ausgestoßenen, die Blinden.
Jesus sagt nicht: Ladet sie ein, weil sie wegen des guten Essens glücklich sein werden.
Er sagt: Ladet sie ein, esst mit ihnen, lebt mit ihnen, tretet in Beziehung mit ihnen, dann wird euer Herz verwandelt werden.
Der Templeton-Preis ist mit einem Preisgeld von umgerechnet rund 1,5 Millionen Euro eine der höchst dotierten Auszeichnungen für besondere Leistungen im Bereich von Religion und Spiritualität.
Er wird jährlich von der Londoner Templeton-Stiftung vergeben, die nach dem verstorbenen britischen Investmentbanker Sir John Templeton benannt ist.
Zu den bisherigen Preisträgern gehörten:
Jean Vanier, 1928 in Genf geborener Kanadier, gründete 1964 die erste „Arche“-Gemeinschaft, indem er in einem Dorf 80 Kilometer nördlich von Paris ein Haus kaufte, um dort mit zwei Männern mit geistiger Beeinträchtigung zu leben.
Seine überzeugende Art, das Evangelium zu leben, die übersprühende Lebensfreude und die ansteckende Herzlichkeit der Gemeinschaften zogen viele Menschen aus aller Herren Länder an.
So gibt es heute weltweit rund 150 „Archen“ in 35 Ländern, eine davon in Tirol, und auch in Kärnten gibt es einen „Verein Arche Kärnten“ mit dem Ziel der Gründung einer Gemeinschaft.
Gemeinsam mit Marie-Hélène Mathieu hat Jean Vanier 1971 die Bewegung „Glaube und Licht“ ins Leben gerufen; Gemeinschaften von Familien mit geistig und mehrfach behinderten Angehörigen und ihren Freunden. „Glaube und Licht“ umfasst heute über 1.500 Gemeinschaften in 82 Ländern. In Österreich gibt es Gemeinschaften in Klosterneuburg, Innsbruck, Inzing und Klagenfurt, weitere sind im Entstehen.
die Bewegung „Glaube und Licht“
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