Judentum umfasst das gesamte Leben, ist Abstammungsgemeinschaft (ergänzt durch die Möglichkeit der Konversion).
Judentum umfasst das gesamte Leben, ist Abstammungsgemeinschaft (ergänzt durch die Möglichkeit der Konversion).
Erlösung schon jetzt oder erst im Jenseits? Wie das Judentum mit dieser Spannung umgeht: Em. Univ.-Prof. Günter Stemberger im Gespräch.
Was zeichnet die jüdische Religion aus? Gibt es überhaupt „die“ jüdische Religion?
Stemberger: Der Begriff „Religion“ für das Judentum ist relativ neu (18.-19. Jh.), das hebräische Wort dafür, "dat", ist aus dem Persischen entlehnt und bedeutet „Gesetz“.
Judentum umfasst das gesamte Leben, ist Abstammungsgemeinschaft (ergänzt durch die Möglichkeit der Konversion).
Zentral ist die Bindung an die am Sinai geoffenbarte Tora, das göttliche Gesetz. Glaubenssätze gibt es zwar auch (Gott, Offenbarung, Schöpfung, Auserwählung, Erlösung usw.), doch sind diese für das Judesein nicht so zentral, solange man Gott und seine Weisung im Leben anerkennt.
Da es verschiedenste Möglichkeiten gibt, diese Weisung zu verstehen und zu verwirklichen, gibt es auch nicht nur eine Form jüdischer Religion. Es ist von der Orthodoxie bis zum Reformjudentum vieles möglich.
Gibt es eine Spannung zwischen Alltagsethik und Ausrichtung auf das Jenseits?
Stemberger: Im Prinzip ist gerade die Alltagsethik, gegründet auf die Kenntnis der Weisung Gottes, der Weg, der zum Jenseits führt, Auferstehung, Erlösung, Gemeinschaft mit Gott garantiert. Insoferne gibt es keine wirkliche Spannung.
Eine Spannung ist eher durch die (allen Religionen gemeinsame) Frage der Theodizee (die Frage, warum Gott das Leiden zulässt, Anm. d. Red.) gegeben, die nur aus der Perspektive des Jenseits eine Antwort erwarten lässt.
Gibt es Erlösung schon jetzt oder erst im Jenseits?
Stemberger: Nach traditioneller Auffassung ist die Sabbatruhe schon eine Vorwegnahme der endzeitlichen Erlösung. Auch die Gründung des Staates Israel wurde als Aufstrahlen eines Funkens der kommenden Erlösung betrachtet, insofern diese ja nicht nur das Jenseits betrifft, sondern als wesentlichen Aspekt die Einsammlung ganz Israels aus der Zerstreuung in das Land der Verheißung umfasst, wo Israel ungestört nach dem Gesetz der Tora leben kann und auch der paradiesische Friede wiederkehrt.
Ob dabei ein Messias eine führende Rolle spielt oder dieses Geschehen ohne messianische Gestalt auskommt, allein und direkt durch Gott bewirkt, das beantwortet die jüdische Tradition nicht einheitlich – diese Frage ist nicht wesentlich.
Was können Christen vom Judentum lernen?
Stemberger: Wesentlich ist wohl die Bindung an die Offenbarung Gottes am Sinai, das Ernstnehmen der gesamten biblischen Tradition (die das Christentum zwar offiziell auch anerkennt, in der Praxis jedoch sehr selektiv wahrnimmt und zu einem guten Teil als überholt betrachtet).
Verbunden ist dies mit ständiger Auslegung, um die einmal in der Vergangenheit gegebene Tora auch für heute relevant zu halten, und der dazugehörigen Wertschätzung des „Lernens“ der Tora als bleibender Aufgabe für alle, als eines ganz zentralen Teils des Judeseins.
Die Umsetzung ins tägliche Leben, wie auch immer konkretisiert (als regelmäßige Schriftlesung, als Talmudlernen oder auch als „profane“ Bildung) könnte auch Christen zu denken geben, ebenso die Zeichenhaftigkeit der wörtlichen Befolgung gewisser Gebote (etwa des koscheren Essens) als körperliches Bekenntnis zum Auftrag Gottes.
Univ.-Prof. Dr. Günter Stemberger
lehrte Judaistik an der Universität Wien.
Institut für Judaistik - Universität Wien
Die Wiener Kirchenzeitung "Der Sonntag"