„Denen, die uns beleidigen, gern verzeihen“ ist das sechste Werk der Barmherzigkeit. Es lässt mich barmherzig sein an dem, der mich beleidigt hat, aber auch an mir selbst. Für uns beide ist es heilsam, zu verzeihen und zu vergeben.
Das deutsche Wort „beleidigen“ kommt von dem alten Adjektiv „leid“, das „unangenehm, hässlich, widerwärtig, betrübend“ bedeutet.
Beleidigen meint also: kränken und verletzen und betrüben. Vieles kann uns beleidigen und uns Leid zufügen. Es kann ein kränkendes Wort sein, das alte Wunden in uns aufreißt.
Der Beleidiger hat oft ein feines Gespür dafür, was unsere Schwachstelle ist. In die lässt er sein verletzendes Wort fallen, damit die alte Wunde wieder zu schmerzen beginnt.
Beleidigen kann auch ein Übergehen sein. Der andere beachtet uns gar nicht. Er tut so, als ob wir Luft seien. Wer uns beschimpft und schlecht über uns redet, wer uns vor anderen lächerlich macht, wer uns widerwärtig und unfair behandelt, wer uns entwertet, indem er uns links liegen lässt, der beleidigt uns.
Das sechste Werk der Barmherzigkeit fordert mich auf, denen, die mich beleidigen, gern zu verzeihen. Viele fühlen sich damit überfordert.
Doch was heißt verzeihen? Das Wort „verzeihen“ kommt von „zeihen“ = beschuldigen, anschuldigen, anzeigen. Verzeihen bedeutet dann: Verschuldetes nicht anrechnen, einen Anspruch auf Wiedergutmachung aufgeben. Im Deutschen verwenden wir fast gleichbedeutend die beiden Worte „verzeihen und vergeben“.
Vergeben hat jedoch eine etwas andere Bedeutung. Es meint: weggeben, erlassen, wegschicken. Vergeben ist also nicht etwas Passives. Es hat nichts mit Nachgeben zu tun.
Wenn wir Vergebung richtig verstehen, ist sie nicht nur ein Werk der Barmherzigkeit dem Beleidiger gegenüber, sondern auch uns selbst gegenüber. Es tut uns selbst gut.
Aber wir müssen Vergebung auch psychologisch richtig verstehen. Vergebung geschieht für mich in fünf Schritten. Der erste Schritt besteht darin, den Schmerz nochmals zuzulassen. Ich darf die Beleidigung des anderen nicht verharmlosen oder zu schnell entschuldigen: „Er hat es ja nicht so böse gemeint.“ Ganz gleich, wie er es gemeint hat: Mir hat es weh getan. Ich überspringe meinen Schmerz nicht, sondern schaue ihn nochmals an und fühle mich in ihn hinein.
Der zweite Schritt besteht darin, die Wut zuzulassen. Die Wut ist die Kraft, den, der mich beleidigt hat, aus mir herauszuwerfen. Ich schaffe eine gesunde Distanz zu ihm.
Wenn ich das Messer des Beleidigers noch in meiner Wunde belasse, dann gelingt Vergebung nicht. Sie wäre höchstens ein masochistisches Wühlen in meiner Wunde. Die Wut wirft mit Kraft das Messer aus mir heraus. Nur dann kann die Wunde heilen. Ich brauche erst Abstand zu dem, der mich beleidigt hat. Dann komme ich zu mir.
Und ich kann die Wut auch in Kraft verwandeln:
Wenn ich die Wut in Ehrgeiz verwandle, selber mein Leben in die Hand zu nehmen, dann steige ich aus meiner Opferrolle aus. Und das befreit mich. Denn es tut mir nicht gut, Opfer zu bleiben.
Der dritte Schritt besteht dann darin, dass ich objektiv anschaue, was bei der Beleidigung geschehen ist. Hier geht es darum, die Beleidigung, den Beleidiger und mich selbst als Beleidigten zu verstehen, ohne zu bewerten.
Ich schaue nochmals an, wie die Beleidigung abgelaufen ist. Hat der andere nur seine eigene Unzufriedenheit oder seine eigene Verletzung weitergegeben? Haben seine Worte, ohne dass er es wusste, mich so tief verletzt, weil sie meine alte Wunde aufgerissen haben?
Und nur wenn ich mich selbst verstehen kann, kann ich zu mir stehen.
Der vierte Schritt ist die eigentliche Vergebung.
Vergebung ist dabei ein aktives Tun.
Wenn ich nicht vergeben kann, bin ich noch an den anderen gebunden.
Ich lasse ihn sein, wie er ist. Das bedeutet nicht, dass ich ihm gleich um den Hals falle. Es kann durchaus sein, dass ich noch längere Zeit des Abstands brauche, damit die Vergebung sich in mir durchsetzen kann, dass sie nicht nur ein Akt des Willens bleibt, sondern auch in mein Herz dringt.
Der fünfte Schritt der Vergebung würde dann darin bestehen, die Wunde in eine Perle zu verwandeln, wie das die hl. Hildegard von Bingen ausgedrückt hat.
So handle ich im sechsten Werk barmherzig an dem, der mich beleidigt hat, aber auch an mir selbst. Für uns beide ist es heilsam, zu verzeihen und zu vergeben.
Barmherziger und guter Gott,
du vergibst uns immer wieder.
Du nimmst uns bedingungslos an,
auch wenn wir schuldig geworden sind.
Schenke mir den Geist der Vergebung.
Befähige mich, all den Menschen zu vergeben,
die an mir schuldig geworden sind.
Und gib mir auch die Gabe,
mir selbst zu vergeben,
denn das ist für mich die
schwierigste Aufgabe.
Gib, dass ich all das Unannehmbare in mir
annehmen kann, weil dein Sohn Jesus Christus
am Kreuz alles an mir angenommen
und in seiner Liebe umarmt hat.
Amen.
Anregungen
Stelle dir einen Menschen vor, der dich verletzt hat oder mit dem du Schwierigkeiten hast.
Bleibe einige Minuten in dieser Haltung der segnenden Hände stehen.
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