Glaube und Angst schließen einander nicht aus! Wenn wir uns mit uns selbst und der Welt nicht mehr auskennen, will der Glaube Mut machen, mit offenen Fragen zu leben.
Glaube und Angst schließen einander nicht aus! Wenn wir uns mit uns selbst und der Welt nicht mehr auskennen, will der Glaube Mut machen, mit offenen Fragen zu leben.
Die Kraft zum Trotzdem
Der am 5. April 1943 verhaftete und auf den Tag genau zwei Jahre später hingerichtete evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer schreibt in seiner Einzelhaft in Zelle Nr. 92 – einem Raum von zwei mal drei Metern – im Juli 1944:
Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest
wie ein Gutsherr aus seinem Schloß.
Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.
Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig, lächelnd und stolz,
wie einer, der Siegen gewohnt ist.
Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?
Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?
Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!
Dietrich Bonhoeffer
Aus: Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Herausgegeben von Eberhard Bethge, Kaiser Verlag München 1970, 381 f.
Von sich selbst spürbar enttäuscht, erzählt eine etwa 50-Jährige so von ihren Nöten. Zu ihrer Angst vor der anstehenden Operation kommt die Enttäuschung hinzu, dass sie von sich erwartet, keine oder doch zumindest weniger Angst zu haben – denn schließlich glaube sie doch an Gott.
Ein weitverbreitetes Missverständnis! Viele sehen Angst als ein Hindernis auf ihrem Weg zu Gott. Sie meinen, ihre Angst sei ein Zeichen dafür, dass sie zu wenig glauben und vertrauen. Es enttäuscht und verunsichert sie, dass selbst das Gebet ihre Furcht nicht auflöst, und sie fragen sich: „Was mache ich bloß falsch beim Beten?“
Die Bibel spricht da eine ganz andere Sprache: Die Psalmen, das wichtigste biblische Gebetbuch, sind gewoben aus Klagerufen und angstvollem Schreien zu Gott – wie auch aus Jubelliedern und dankbarem Vertrauen.
Glaube und Angst schließen einander nicht aus! Auch Jesus hat das erfahren. Als er ahnt, dass ihm ein gewaltsames Ende droht, packt ihn die Angst. Er schreit zu Gott. Er nimmt seine Angst ins Gebet, lässt sie zu, spricht sie aus. Durch all das wird Jesus nicht von seiner Angst befreit.
Wohl aber, so erzählt das Lukasevangelium, wird er fähig, mit und trotz seiner Angst seinen Weg weiterzugehen (vgl. Lukas 22,39–46). Er bleibt sich und seinem Gott treu. Mut sei Angst, die gebetet habe, formuliert Corrie ten Boom, eine niederländische Widerstandskämpferin im Dritten Reich.
Viele Menschen erfahren ihren christlichen Glauben als einen Resonanzraum, in dem ihre Angst zur Sprache kommen kann. Die Angst vor einer Operation, einem Examen, dem Sterben des Partners, dem Verlust des Arbeitsplatzes. Aber auch die Furcht vor Krieg und Terror, vor Hass und Gewalt.
Und manchmal stellt sich im Gebet das leise Ahnen ein, dass ich mit meiner Angst nicht allein bin. Als ob in der Tiefe des eigenen Herzens ein Licht schimmern würde. Als ob ich von innen her liebend angeschaut würde. Das weckt Vertrauen und Mut.
Eine vielsagende Redewendung: Vertrauen wecken. Sie deutet an, dass es unter aller Angst und Verzweiflung ein tragendes Vertrauen gibt. Oft schlummert es oder wird verdeckt von negativen Erfahrungen. Aber es kann geweckt werden.
Da ist es einer Person klamm ums Herz – und eine Begegnung, ein Sonnenstrahl an grauen Tagen oder ein Bibelwort rufen unverhofft Vertrauen in ihr wach. Und sie spürt neue Zuversicht.
All dies zeigt: Es wäre zu kurz gedacht, zu meinen, der Glaube befreie von Angst und Not, von innerer Zerrissenheit und Selbstzweifeln. Wer den Glauben als Sprungbrett ansieht, um bedrängenden Gefühlen und Fragen zu entkommen, irrt. Denn selbst mit Gottes Hilfe lässt sich kein spiritueller Salto an der Wirklichkeit vorbei machen.
Ich halte es für eine nachvollziehbare, aber infantile Versuchung, den Glauben wie ein Betäubungsmittel zu missbrauchen, um Angst oder Leid zu übertünchen. Vielmehr kann er den Mut freilegen, auch die schlimmen Zeiten zu ertragen, in denen wir Vertrauen und Hoffnung verlieren. Wenn wir uns mit uns selbst und der Welt nicht mehr auskennen, will der Glaube Mut machen, mit offenen Fragen zu leben.
Eindrücklich bezeugen dies Tagebuchaufzeichnungen von Dietrich Bonhoeffer aus seiner Haft. Bonhoeffer kennt sich mit sich selbst nicht mehr aus. Er hält es aus, dass ihm die Balance nicht gelingt, und löst seine Zerrissenheit nicht auf. Und in dieser dunklen Stunde wird sichtbar, wodurch er sich letztlich gehalten erfährt: „Gott weiß um mich und meine Selbstzweifel!“
Das wird für Bonhoeffer zum Rettungsanker im Meer der einsamen Fragen. Im Angesicht Gottes zu leben schenkt ihm eine Identität, die tiefer reicht als alles Bewusstsein und alle Zerrissenheit. Verunsichert, wer er selbst ist, legt er sich in die Hände eines anderen, in die Hände Gottes.
Die Kunst, mutig zu sein
Verlag: bene! (1. Oktober 2018)
ISBN-13: 978-3963400223
mit Sr. Melanie Wolfers SDS durch die Fastenzeit:
Melanie Wolfers im Video:
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