"Psychotherapie und Beichte ergänzen einander, sind aber grundverschieden: Psychotherapie ermöglicht höchstens ein Aussprechen der Schuld, die Beichte aber bewirkt die Vergebung", so Raphael Bonelli.
"Psychotherapie und Beichte ergänzen einander, sind aber grundverschieden: Psychotherapie ermöglicht höchstens ein Aussprechen der Schuld, die Beichte aber bewirkt die Vergebung", so Raphael Bonelli.
Raphael Bonelli, Facharzt für Psychiatrie, über Schuld und Vergebung, Psychotherapie und Beichte.
Warum suchen wir noch immer für (fast) alles einen Sündenbock, und das im "Zeitalter des Unschuldswahns"?
Bonelli: Das ist tatsächlich - psychodynamisch gedacht - eine hochinteressante Frage. Der Sündenbock muss dann gesucht werden, wenn eigene Schuld verdrängt wird. Denn tief drinnen hat der Mensch eine Wahrnehmung davon, dass es Schuld gibt.
Die laute, aggressive Fremdbeschuldigung lenkt von den eigenen Schuldanteilen ab. Fremdbeschuldigung ist fürs Erste kurzfristig erleichternd, drückt aber den Menschen tiefer in Selbstbetrug und Verdrängung. Und verdrängte Schuld wird unbewusst handlungswirksam: So wird der Mensch immer unfreier in seinen Handlungen und Beziehungen.
Wie kann persönliche Schuld erkannt werden? Welche Rolle spielt hier die Psychotherapie?
Bonelli: Zuerst muss klargestellt werden, dass es nicht Aufgabe der Psychotherapie ist, über Schuld oder Unschuld zu befinden, da wir keine richterliche Funktion haben.
In speziellen Fragestellungen aber, etwa der Therapie mit Missbrauchstätern, geht es zuerst einmal darum, dass persönliche Schuld überhaupt möglich ist. Dass das eigene Handeln nicht eine notwendige Konsequenz aus Erziehung und erlittenem Unrecht ist.
Ein Therapieerfolg ist es demnach, wenn jemand sagen kann – oft nach einem langen Reflexionsprozess: "Da bin ich schuldig geworden. Das habe ich getan, obwohl ich auch anders gekonnt hätte."
Was geschieht, wenn man die Schuld verdrängt? Wie zum Beispiel Goethes „Faust“, der Schuldfrage wegschiebt…
Bonelli: Er bleibt in der Unaufrichtigkeit sich selbst gegenüber. Und er verheddert sich immer mehr in Rücksichtslosigkeit und Verantwortungslosigkeit. Auf seinem Weg bleiben Leichen zurück, bei Faust sogar im wahrsten Sinn des Wortes.
Der Mensch, der sich ein fehlerloses Selbstbild konstruiert, ist unkorrigierbar und macht ständig dieselben Fehler. Im Hintergrund ist es eine Angst, Fehler zuzugeben und so seinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht zu werden. Angst ist aber immer ein schlechter Ratgeber, weil sie unflexibel, starr und blind macht.
Was unterscheidet Psychotherapie von der Beichte?
Bonelli: Die beiden ergänzen einander, sind aber grundverschieden. Keine der beiden kann den anderen ersetzen. Der Hauptunterschied liegt darin, dass Psychotherapie höchstens ein Aussprechen der Schuld ermöglicht, die Beichte aber die Vergebung bewirkt.
Schlechte und veraltete Psychotherapieformen bagatellisieren die Schuld durch Fremdbeschuldigung, etwa indem den Eltern, dem Ehepartner oder der Kirche die Schuld zugeschoben wird. So wird Schuld psychologisiert, der Klient wird im Selbstbetrug bestärkt und tiefer in die Opferrolle gedrückt. Lösungen, Verhaltensänderungen und Vergebung werden so erschwert oder verunmöglicht.
Verdrängung der Schuld macht unfrei: Welche Hilfe bietet das - beinahe vergessene - Buß-Sakrament?
Bonelli: Das Buß-Sakrament ermöglicht, dass ein "Mea culpa" gesprochen werden kann, dass die eigene Schuld ausgesprochen wird, es bietet einen sicheren Rahmen mit Lösungsvorschlag. Die Beichte führt die Schuld zurück in die Normalität und erreicht somit eine Enttabuisierung.
In Wirklichkeit ist Schuldig-Werden eine zutiefst menschliche Erfahrung, wir sind sehr häufig Opfer und Täter gleichzeitig. Das Leben besteht darin, Unrecht zu erleiden und Unrecht zu tun.
Wenn die Kirche die häufige Beichte empfiehlt, befreit sie vom Perfektionismuszwang des Zeitgeistes. Sie macht den Menschen auch fähiger, selbst anderen zu verzeihen, die an ihm schuldig geworden sind.
Raphael M. Bonelli ist Facharzt für Psychiatrie und Neurologie.
Das Interview ist in der Wiener Kirchenzeitung "Der Sonntag" erschienen. Die Fragen stellte Stefan Kronthaler.