"Zu beten ist nicht einfach ein Akt der Psychohygiene oder des Selbstgesprächs, Gebete sind wirkliche Handlungen", so Univ. Prof. Marianne Schlosser.
"Zu beten ist nicht einfach ein Akt der Psychohygiene oder des Selbstgesprächs, Gebete sind wirkliche Handlungen", so Univ. Prof. Marianne Schlosser.
Gebet ist nicht nur ein Tun des Menschen, sondern Gnade.
Und das Bittgebet ist gewissermaßen der Ernstfall des Glaubens, denn hier stellt sich die Grundfrage nach der Beziehung Gottes zur Welt, der Beziehung zwischen Ewigkeit und Zeitlichkeit.
Ist Beten schwer oder leicht?
Schlosser: Mir scheint, beides. Das Gebet, so schreibt Edith Stein, ist das Höchste, was der menschliche Geist vollbringen kann. Zu beten entspricht dem Menschen zutiefst, aber es fordert auch seine ganze Person — genauso wie der Akt des Glaubens. Wer betet, vollzieht sozusagen seinen Glauben. Und wie uns zuweilen das Glauben leicht, ja selbstverständlich vorkommt, und dann wieder schwer, so auch das Beten. Denn Gott, an den sich der gläubige Mensch im Gebet wendet, ist kein Gegenstand dieser Welt. Und das Glauben wie das Beten haben Teil an diesem Geheimnis.
Die Heilige Schrift ist voll von Bittgebeten. Was bedeuten diese Erfahrungen bittender Menschen für uns heute?
Schlosser: Es ist auffällig, wie viele Bittgebete und Fürbittgebete in der Bibel des Alten und Neuen Testaments enthalten sind. Das Vaterunser etwa besteht ausschließlich aus Bitten. Jesus selbst fordert seine Jünger auf, zuversichtlich zu bitten, in einer Art Erhörungsgewissheit, und darin nicht nachzulassen. Davon sprechen auch die Gleichnisse von der Frau, die dem ungerechten Richter zusetzt (Lk 18,1-8), und von dem Freund, der bei Nacht kommt und sich nicht abweisen lässt (Lk 11,5-9). Die Bitte ist in der ganzen Bibel vielleicht sogar die wichtigste Gebetsart; und das bedeutet eine Ermutigung auch für uns, „vor Gott das Herz auszuschütten".
Worum dürfen wir bitten?
Schlosser: Um alles, was dem Willen Gottes entspricht bzw. ihm nicht widerspricht. Darum liest man im Jakobus-Brief, dass manche Bitten nicht erhört werden, weil Menschen in böser Absicht bitten (Jak 4,3). Das Beten und das Leben dürfen nicht auseinanderklaffen (Jes 1,15). Das heißt also umgekehrt: Wenn wir Gott um etwas bitten, müssen wir auch bereit sind, seinen Willen zu suchen und zu tun – d.h. die Vertrautheit mit Gott zu pflegen und entsprechend zu handeln. Wir sollen und dürfen um die Güter des Leibes und der Seele bitten, uns dabei aber bewusst sein, dass das erste, worum wir bitten, das Reich Gottes ist – „das Reich der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens". Dem sollen wir nichts vorziehen (vgl. Mt 6,33). Daran sollen wir auch Maß nehmen für alle anderen Dinge, die wir erbitten, sei es Gesundheit, Arbeit, Glück im Examen ... Denn in der Bitte um die Liebe, die stärker ist als der Tod, sind im tiefsten alle menschlichen Bitten enthalten.
Wozu sollen wir bitten? Handelt Gott, wenn wir bitten?
Schlosser: Das Bittgebet ist gewissermaßen der Ernstfall des Glaubens, denn hier stellt sich die Grundfrage nach der Beziehung Gottes zur Welt, der Beziehung zwischen Ewigkeit und Zeitlichkeit.
Diese Frage ist sehr alt, und die in der Religionsgeschichte versuchten Antworten geben Aufschluss über das jeweilige Gottesbild. Wir müssen zwei Dinge festhalten, erstens: dass nicht alles, was geschieht, der Notwendigkeit unterworfen ist, d h. dass der Mensch frei ist und wirklich freie Akte vollbringen kann. Und zweitens, dass sich Gottes Vorsehung nicht deswegen ändert, weil der Mensch dieses oder jenes tut. Beides zusammenzudenken gelingt nur, wenn man Gottes Vorsehung und das Handeln des Menschen nicht ganz auf derselben Ebene denkt. Aufgrund seines Wissens als Schöpfer aller Dinge kennt Gott alle Ursachen im Kosmos, auch die freien Ursachen. D. h. er kennt auch, was eine geschaffene Person in Freiheit tut. Vorsehung heißt, dass Gott die Handlungen eines Menschen, und dazu gehören auch die Gebete!, mit den Ereignissen der Geschichte und mit anderen Ursachen verbinden kann. C. S. Lewis hat es einmal so ausgedrückt: Gott kann meine Gebete von morgen mit dem Wetter von übermorgen durchaus verknüpfen, und zwar schon im Augenblick der Schöpfung von allem. Gott gibt uns also – indem er uns ausdrücklich auffordert zu bitten – die Möglichkeit, Mit-Ursache zu sein.
Also haben Gebete Konsequenzen?
Schlosser: Nicht nur unsere Taten der Liebe oder der Gerechtigkeit – wenn wir etwa einem Hungernden zu essen geben – haben Folgen, sondern auch unsere Gebete. Zu beten ist nicht einfach ein Akt der Psychohygiene oder des Selbstgesprächs, Gebete sind wirkliche Handlungen. Man kann sich das auf der zwischenmenschlichen Ebene vor Augen führen: Die Bitte an einen Menschen, er möge etwas Bestimmtes tun, ist wirklich und wahrhaftig eine Mit-Ursache für das Geschehen – auch wenn der Andere schon darauf gewartet hat, gebeten zu werden, ja gerade dann! Nehmen wir ein Beispiel für ein Bittgebet zu Gott: Wenn ich um die Vergebung meiner Sünden bitte, dann muss ich nicht bewirken, dass Gott vergebungsbereit wird; vielmehr kann die Vergebung, die er geben will, und die in Christus schon erworben ist, nur zum Menschen kommen, wenn der Mensch weiß, dass er ihrer bedarf. Also wenn er darum bittet. Die Bitte ist nicht eine Veränderung Gottes, sondern der Weg, wie bestimmte Gaben Gottes uns zuteilwerden – weil wir nicht einfach Instinktwesen sind, sondern von Gott als frei erschaffen und zur Kommunikation mit ihm berufen sind. Mit einem Wort von Gregor dem Großen: „Wir beten also nicht deswegen, um Gottes Plan zu verändern, sondern um zu erhalten, was Gott vorgesehen hat, dass durch die Gebete seiner Heiligen erfüllt werden soll."
Warum hat das Sprichwort „Not lehrt beten" durchaus etwas Richtiges?
Schlosser: Weil man als Mensch manchmal erst in einer Notlage erkennt, dass das eigene Wissen, das eigene Können Grenzen hat, und weil einem dann vielleicht auch die Erinnerung daran kommt, dass Gott als der Schöpfer und unser Erlöser noch andere Wege und Mittel bereithält, als die, die wir mit unseren menschlichen Möglichkeiten besitzen. Allerdings muss man auch sagen: Nicht bei jedem Menschen führt eine Notlage zum Beten. Bei manchen kann es auch zum Aufbegehren, Zweifeln oder zur Verzagtheit führen. „Not lehrt beten" – das geht nicht automatisch, sondern setzt einen Akt der Bekehrung, des Glaubens, voraus.
Stimmt es, dass Gott die Gebete erhört, auch wenn er die Wünsche der Betenden nicht einfach eins zu eins in Erfüllung gehen lässt?
Schlosser: Wir haben in der Heiligen Schrift auch Beispiele dafür, dass ein Bittgebet, das aus einem reinen Herzen kam, nicht erhört wurde: Paulus sagt von sich, er habe drei Mal den Herrn gebeten, ihn von einer Krankheit oder schweren Belastung zu befreien, und er habe die Antwort bekommen: „Meine Gnade genügt dir" (2 Kor 12,1-10). Man sieht an diesem Beispiel sehr deutlich: Paulus wollte befreit werden von einer Last, von der er fürchtete, sie hindere seinen Dienst und seine Hingabe an den Herrn. Davon wurde er zwar nicht befreit, aber er bekam die Zusage, seine apostolische Wirksamkeit werde nicht scheitern. Damit war seine eigentliche und tiefere Bitte erfüllt. Und ist es nicht im letzten wichtiger, sich gehört – und damit geliebt – zu wissen, als in der konkreten Bitte erhört?
Warum ist das Buch der Psalmen eine Sprachschule des biblischen Gebets?
Schlosser: Die Bibel insgesamt ist eine Sprachschule des Gebetes, weil sich ja unser Gebet nicht an einen unbekannten Gott richtet, oder an ein höheres Wesen, das wir nur erahnt oder philosophisch erschlossen haben, sondern an Gott, der sich offenbart hat. Gott ruft den Menschen als sein Geschöpf dazu, mit ihm in eine personale Beziehung einzutreten, das heißt auch: mit ihm zu sprechen, „sein Angesicht zu suchen", „seinen Namen anzurufen". Gerade in den Psalmen werden uns Situationen gezeigt, an denen man das Beten lernen kann. So wie man eine Sprache lernt durch Nachsprechen, so lernen wir auch das Beten, das Danken, das Bitten, das Loben, das Klagen an den vielfältigen Psalmen. Jesus selbst hat die Psalmen gebetet, und ich fände es gut, wenn jeder Christ auch den einen oder anderen Psalm auswendig wüsste, um in Situationen, wo einem die eigenen Worte des Betens fehlen, vielleicht diesen Psalm sprechen zu können.
Ein beliebtes Gebet ist der Rosenkranz. Warum ist dieses meditative Gebet alltagstauglich für uns Katholiken?
Schlosser: Der Rosenkranz ist die Aneinander-Reihung von Gebeten, die eigentlich jedem Christen vertraut sind. D. h., die Anstrengung des Kopfes ist nicht in erster Linie gefordert, sondern die Ruhe des Wiederholungsgebetes bringt auch eine innere Ruhe mit sich. Das Rosenkranzgebet ist an sich ein betrachtendes Gebet: Die Ereignisse des Heiles in der Geschichte Jesu, im Blickwinkel von Maria betrachtet, werden verinnerlicht. Man geht mit diesen Geschehnissen innerlich um, man bindet das Gedächtnis daran. Und wenn man das regelmäßig tut, wird man sicher auch mit der Person Jesu vertrauter werden. Auch wenn man vor Gott eine Zeitlang verweilen, ihm einfach Zeit schenken oder in einem bestimmten Anliegen bitten will, ist der Rosenkranz ein sehr guter „Leitfaden", an dem man sich gewissermaßen festhalten kann, um nicht allzuweit abzuschweifen. Und schließlich kann man vielleicht auch ein Stück des Rosenkranzes beten, um „vertane" Zeit-Fragmente zu gefüllten Zeiten zu machen: Wenn man im Verkehrsstau steht, in einer Schlange am Schalter wartet...
Welche Bedeutung haben sogenannte „Stoß-Gebete"?
Schlosser: Die Praxis des Stoß-Gebetes ist sehr alt. Sie geht in ihren ersten Zeugnissen zurück auf die frühen Mönche, die so genannte Glut-Gebete zum Himmel geschickt haben. Also Gebete, für die man sich nicht lange konzentrieren musste, wo man nicht Angst haben musste, die Sammlung zu verlieren, sondern kurze Anrufungen, als Ausdruck der Sehnsucht nach Gott, auch als spontane und vertrauensvolle Bitte um seine Hilfe. Das Stoß-Gebet braucht nicht viel Zeit und hat gerade im Alltag in vielen Situationen seinen Ort: Man kommt an einem Unfall vorbei, oder man ist in einer Situation, wo einem die rechten Worte nicht einfallen, oder man erlebt eine frohe Überraschung. Stoß-Gebete erheben sofort das Herz zu Gott – denn Beten bedeutet ja, „das Herz zu Gott zu erheben"; das geht in einem Bruchteil einer Sekunde. Auf diese Weise kann man mitten in den Geschäften des Alltags die Verbindung mit Gott aufrecht halten, und auch bewusst diese Welt in Gottes Licht stellen.
Was ist Ihr Lieblingsgebet und warum?
Schlosser: Da gibt es mehrere ... Besonders gern habe ich Psalm 139 – die liebende Sorge Gottes von Anbeginn eines Menschenlebens an. Wunderbar finde ich auch das „Te Deum", ein Gesang voller Freude und Zuversicht, oder die Hymnen zum Heiligen Geist - weil man auch in der Theologie ohne den Heiligen Geist nicht gut auskommt.
Kann man beten lernen?
Schlosser: Der eigentliche Lehrmeister des Gebetes ist der Heilige Geist. Denn das Gebet ist nicht nur ein Tun des Menschen, sondern Gnade (vgl. Röm 8,26). Aber natürlich können auch Menschen aus ihrer eigenen Erfahrung einen hilfreichen Rat geben, z. B. wie man der leidigen Zerstreutheit wehren kann. Bereits aus der Zeit der frühen Kirche haben wir Schriften über das Gebet, vor allem Kommentare zum Vaterunser – denn dieses Gebet, „das der Herr uns gelehrt hat", ist das Modell für all unser Beten.
Auch Jesus hat in seiner Familie das Beten „gelernt". Wo sind heute die Orte dieses Beten-Lernens?
Schlosser: Ich würde zuerst ganz einfach die täglichen Gebete in der Familie nennen: mit den Kindern ein Morgen- und ein Abendgebet beten, das Tischgebet, ein Kreuzzeichen, bevor sie in den Kindergarten oder in die Schule aufbrechen. Kinder sollen erleben, dass auch die Eltern selbst beten. Vor allem soll den Kindern die Zuversicht vermittelt werden, dass Gott Freude daran hat, wenn sie beten und ihm wie dem besten Freund vertrauen. Beten ist nicht bloß eine Pflicht, sondern ein Privileg. Auch Erwachsene glauben das oft nicht! In einer mittelalterlichen Anleitung zum Gebet heißt es: „Sei nicht verzagt und schätze dein Gebet nicht gering; denn Er, der uns aufgetragen hat zu bitten, schätzt es nicht gering!"
Das Gespräch wurde geführt mit Univ.-Prof. Dr. Marianne Schlosser.
Sie lehrt Theologie der Spiritualität an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.
Schwerpunkt Beten auf erzdioezese-wien.at
Lieblingsgebete verschiedener Menschen