Der spektakuläre Weg vom Party- zum Klosterleben der jungen Wienerin Marie Mauritz: Sie begegnet Jesus in Kalighat, dem Sterbehaus in Kalkutta.
Welche Bedeutung hat Weihnachten für dich?
Weihnachten hat mein Leben völlig verändert. Am 25. Dezember 2005 wurde Christus in meinem Herzen geboren. Ich war damals in Kalkutta als Volunteer (freiwillige Helferin) bei den „Missionaries of Charity“, den „Mutter Teresa-Schwestern“, tätig. In der Nacht von Weihnachten sind wir mit tausend gekauften Decken durch die kalten und schmutzigen Slums gefahren, um sie Obdachlosen zu schenken. Das muss sehr schnell und sehr leise gehen, denn tausend Decken reichen bei weitem nicht aus für die Massen von Armen, Kranken und Sterbenden, die unbeachtet auf den Straßen liegen. Bei diesem Einsatz traf ich einen Sterbenden, der halbnackt in einer Gatsch-Lacke lag und warf ihm im Vorbeigehen eine Decke drüber. Plötzlich merkte ich, dass er mich zurückrief. Ich schaute noch einmal hin und da wurde mir erst bewusst, dass er im Sterben lag. Ich nahm seinen Kopf in den Arm und da traf es mich wie ein Blitz: Das ist Christus im Ärmsten der Armen! Gott ist mir unmittelbar begegnet!
Warst du zu diesem Zeitpunkt gläubig?
Nein, das ist wirklich eine längere Vorgeschichte. Ich bin in Wien aufgewachsen, wurde getauft und gefirmt, das „volle katholische Programm“ aus Tradition heraus. Nach der Firmung habe ich aufgehört in die Kirche zu gehen. Als Jugendliche findet man jede Ausrede und meine Mutter hat es mir überlassen. Den Glauben habe ich verloren, er hat mich nicht interessiert. Alles andere war wichtiger, als irgendetwas, was ich nicht sehen, erkennen, greifen kann.
Was hat dein Leben in dieser Zeit geprägt?
Ich habe früh gemerkt, dass ich mich nach etwas sehne, was ich nicht in Worte fassen konnte. Ich war auf der Suche „überall und nirgendwo“, von einer Party zur nächsten. In meinem Inneren war diese Sehnsucht, ein Loch, das gefüllt werden wollte, aber über diese Sehnsucht zu sprechen, die Seele leben zu lassen – das hätte einfach gerade nicht in mein Leben gepasst. Äußerlich kein Kind von Traurigkeit, war ich schon im Alter von 14 bis 16 innerlich unglücklich. Meine Freunde schienen mit ihrem Leben glücklich zu sein, aber ich habe mich nach mehr gesehnt. Und so bin ich von einem Extrem ins andere geschwankt. Mit 18 bin ich nach der Matura für ein Jahr nach Guatemala gefahren.
Auf der Suche nach dem 100-prozentigen Glück?
Ja, mit der Hoffnung, die immer größer werdende Leere in mir zu füllen. Guatemala, das war dann auch der absolute Höhepunkt des Partylife. Sonne, Freunde und viel Alkohol. Damals war das für mich die Zeit meines Lebens. Ich habe mich dann sehr schnell in einen Guatemalteken verliebt, Santiago, der Mann fürs Leben. Nach meiner Rückkehr nach Wien konnte ich mich nicht mehr richtig integrieren. Ich begann die Krankenschwesternausbildung, die ich immer schon machen wollte. Die Liebe lebte aber im Ausland … Wir sahen uns zu Weihnachten und im Sommer, zwei Mal im Jahr. Die Fernbeziehung hielt immerhin drei Jahre.
Und dann?
Dann habe ich die Beziehung beendet, weil ich gemerkt habe, dass er nicht mehr ehrlich mit mir war und mich betrog. Aber der Entschluss war reine Kopfsache, vom Herzen her hat das anders ausgeschaut: Meinen extremen Liebeskummer habe ich in Tränen und oft auch in Alkohol ertränkt. Irgendwie habe ich aber noch das letzte Jahr meiner Ausbildung erfolgreich abgeschlossen. Das Diplom in Händen, wusste ich nicht, was ich jetzt tun sollte. Guatemala, dessen Leben, Musik und Sprache ich so liebte, war mit Santiago untergegangen, und damit auch meine Idee, dort zu leben und arbeiten. Ich brauchte ein neues Guatemala, und so plante ich eine Weltreise.
Also wieder auf der Suche ...
Eigentlich auf der Flucht. Mein Selbstfindungstrip, mein „Suchen nach innerer Harmonie“, mein „Abschließen mit allem was war“, war in Wirklichkeit eine Flucht vor allem und speziell vor mir selbst. Kurz vor der Abreise traf ich meinen Bruder, der in Shanghai lebt, und der mich zum ersten Mal sah, seit ich mit Santiago Schluss gemacht hatte. Er war schockiert über meinen Zustand und fragte mich, was eigentlich los sei. Ich meinte nur: „Gar nichts – ich fahre auf Weltreise und lege mich für einen Monat an den weißen Strand der Fidschiinseln.“ Mein Bruder hielt das für eine Schnapsidee. Er kannte mich gut genug, um zu wissen, dass dieses halbe Jahr nichts ändern würde, schlimmer noch: Ich und mein Lover namens Selbstmitleid on tour hätten die Lage nur verschlechtert. Trotzdem wühlten mich seine Worte auf.
Wie ging die Diskussion aus?
Mein Bruder meinte: „Du hast doch gerade eine gute Ausbildung gemacht, mit der du weltweit helfen kannst. Vielleicht solltest du dich mit dem Leid anderer auseinandersetzen, damit du selber über dein eigenes Leid hinwegkommst. Geh doch nach Indien zu den Mutter Teresa-Schwestern.“ Das Drecksloch Kalkutta statt den weißen Stränden der Fidschis? Das war völlig gegen meine Idee. Siegessicher habe ich mein Reisebüro angerufen und gefragt, ob ich das Ticket noch ändern kann. Überraschenderweise sagten sie ja. Zwei Wochen später war ich in Kalkutta und habe meinen Bruder verflucht. Es war so NICHT Fidschi, es war ALLES, was ich nicht wollte: Menschenmassen, Gedränge, Dreck, Gestank, Ratten, Autos …
Ein harter Einstieg. Gab es Aussicht auf Besserung?
Ich bin dann mit der Einstellung „ihr habt auf mich gewartet, die super Krankenschwester aus Österreich“ zum Sterbehaus der Mutter Teresa Schwestern gegangen, denn nichts sonst konnte ja an MEIN Leid herankommen. Dort sind die Menschen gestorben, ich konnte keine medizinischen Wunder vollbringen. Für mich waren alle nur Patienten, Nummern, Bett 1 bis 55. Ich dachte mir, die sterben eh schneller, als ich mir die Namen merken kann. So trist ging es zwei Monate dahin. Unter den Volunteers waren viele, die in der Früh die Heilige Messe besuchten. Ich gehörte natürlich nicht dazu. Dann kam der Advent. Zwei Freundinnen luden mich ein, ein Opfer zu bringen und vor Weihnachten täglich die Messe zu besuchen. Hallo? Ich komme aus Wien, um hier zu arbeiten, statt auf den Fidschis zu liegen und jetzt das? Noch mehr Opfer? Aber
sie blieben hartnäckig. Aus purem Stolz, denen zu beweisen, dass ich auch dieses Opfer vollbringen kann, ging ich dann zur Messe.
Wie erging es dir mit diesem stolzen Entschluss?
Die ersten Tage schlief ich tief und fest, doch nach ein paar Tagen hatte ich mich an das Aufstehen gewöhnt. Ich blickte herum und sah zum ersten Mal bewusst das Kreuz in der Kapelle. Daneben standen die Worte „Mich dürstet!“ Ich wusste nicht, dass das die letzten Worte Jesu am Kreuz waren, aber sie beschrieben genau das Gefühl tief in mir drin. Warum stehen diese Worte aber neben dem Kreuz? Jesus ist Gott, wie man sagt, wonach sollte ihn dürsten? Ich wurde so wütend. Er hatte meine Gefühle gestohlen. Ab diesem Tag schloss ich die Augen in der Messe, damit ich diese Provokation nicht mehr sehen musste. Ich konnte also nicht mehr schlafen und nicht mehr schauen. Es blieb nur mehr das Hören. So hörte ich zum ersten Mal dem Priester zu. Und worüber sprach er? Über die Worte „Mich dürstet“ …
Wohl mehr als ein Zufall …
Ja, es war als ob er nur zu mir sprach: „Jesus ist Gott, er kann alles haben, was er will. Nur eines kann er nicht haben: Das bist Du! Du bist frei ihn zu lieben und das einzige, wonach er dürstet ist deine Liebe!“ Wer bin ich, dass Gott nach mir dürstet? Was kann meine Liebe ihm bringen? Seit dieser Messe ging ich dort gerne hin. Ich begann eine Veränderung zu spüren, eine Liebe, die ich nicht kannte. Hier war der Ort, wo ich mich auf einmal ganz zu Hause fühlte.
Der Advent, die Ankunft des Herrn, wurde also seinem Namen gerecht?
Schritt für Schritt! Zu Weihnachten habe ich bei der Mitternachtsmette zum erstem Mal bewusst gebetet und bin mir dabei ehrlich gesagt recht blöd vorgekommen. Ich habe gesagt: „So hier bin ich jetzt, es ist Weihnachten, dein Geburtstag. Alle, die dich kennen, sind glücklich. Ich will auch glücklich sein. Wenn es bedeutet, dass ich mich dir hingeben und dich lieben muss, dann soll es sein. Aber Du musst mir ein Zeichen geben, dass das, was ich jetzt sage, der richtige Weg ist. Zwinker mir vom Kreuz runter oder winke mir zu. Gib mir schnell ein Zeichen, weil mein Enthusiasmus ist morgen wieder weg.“ Gewunken hat er nicht, aber als ich dann eben in der Nacht den Kopf des Sterbenden im Arm hielt, da wusste ich, dass das mein Zeichen war, um das ich nur wenige Stunden zuvor gebeten hatte. Dieser Mann, ein Hindu, war mein Überbringer von Jesus, war die Krippe für mich. Er hat mir das Jesuskind ins Herz gelegt.
Hat diese weihnachtliche Begegnung dein Leben verändert?
Ja völlig, alles wurde wie neu. Ich wusste auf einmal, dass nichts mehr so sein würde wie es war. Ich bin durchs Sterbehaus geschwebt, die Patienten, aber auch die anderen Helfer, sogar die Leute auf den Straßen, waren mit einem Mal zu meinen Brüdern und Schwestern geworden. Ich bin permanent grinsend durch die Straße gegangen, die Leute dachten schon, ich spinne. Bis heute habe ich einen tiefen inneren Frieden, das Loch ist gefüllt. Jetzt weiß ich, wonach sich meine Seele so sehr gesehnt hatte: Nach dem, der sie erschaffen hat. Im Mai 2007 bin ich in Italien bei den Mutter Teresa-Schwestern eingetreten, um ganz Jesus zu gehören. Er für mich, ich für ihn.
Das Interview mit Marie Mauritz führte Eugen Waldstein (Missio.at ).