Der zweite Tag der Fastenzeit beginnt in Rom in San Giorgio in Velabro, einer mittelalterlichen Kirche am Fuße des Palatin. Sie erzählt eine Geschichte, die tief in die Mythen und Traditionen Roms eingebettet ist. Hier verschmelzen Vergangenheit und Gegenwart auf eindrucksvolle Weise.
Das Velabrum war einst ein sumpfiges Gebiet, das oft vom Tiber überflutet wurde. Der römische Gelehrte Varro leitete den Namen vom lateinischen „vehere“ (transportieren) oder „velaturam facere“ (übersetzen) ab. Später wurde es in „Vellum aureum“ (Goldenes Vlies) umbenannt – ein Versuch, die heidnische Vergangenheit Roms in einem christlichen Licht erscheinen zu lassen.
Mehr noch als sein Name ist das Velabrum mit der Gründungslegende Roms verknüpft. Hier soll die Tiberflut die Zwillinge Romulus und Remus in ihrem Weidenkorb an Land gespült haben. Ihr Korb blieb schließlich in der Grotte "Lupercale" unterhalb des Palatins hängen. Der Legende nach wurden die Brüder von einer Wölfin gesäugt, bis sie vom Hirten Faustulus und dessen Frau Acca Larenzia gefunden und aufgezogen wurden. Einige Historiker vermuten, dass Acca Larenzia selbst als „Lupa“ (Wölfin) verehrt wurde – möglicherweise eine alte Muttergottheit, deren Priesterinnen in heiligen Gemeinschaften lebten.
Romulus und Remus gründeten später die Stadt Rom und legten so den Grundstein für eine der mächtigsten Zivilisationen der Antike. Das Velabrum war somit die Kulisse einer sagenhaften Geburtsstunde.
In einem Viertel mit so viel Geschichte konnte eine Kirche nicht fehlen – ein Symbol für den Sieg des Christentums über das heidnische Rom. San Giorgio in Velabro liegt neben dem Janusbogen und besticht durch einen malerischen Vorhof mit 15 Säulen. Eine lateinische Inschrift aus dem 13. Jahrhundert erinnert an den Prior Stefano della Stella, der die Vorhalle auf eigene Kosten erneuern ließ.
Besonders bemerkenswert ist, dass viele Bauelemente – vom Boden bis zu den Säulen – aus antiken römischen Bauten stammen. Dies war in Rom eine gängige Praxis, um frühere Kultstätten symbolisch zu überlagern und in christliche Heiligtümer umzuwandeln.
Die heutige Kirche wurde im 9. Jahrhundert von Papst Gregor IV. (827–844) errichtet und ersetzte eine ältere Kirche aus dem 7. Jahrhundert, die Papst Leo II. als Diakonie gegründet hatte. Sie war den Märtyrern Georg und Sebastian gewidmet. Papst Gregor II. bestimmte sie zur Stationenkirche am Donnerstag nach Aschermittwoch. Im 8. Jahrhundert ließ Papst Zacharias, ein aus Griechenland stammender Papst, die Reliquie des Heiligen Georg aus Kappadokien nach Rom bringen. Heute ruhen das Cranium und ein Teil der Halswirbelsäule des Heiligen im Hauptaltar.
Im 13. Jahrhundert wurde die Kirche erweitert, die markante Fassade mit dem gotischen Schriftzug entstand, und der romanische Glockenturm aus dem 12. Jahrhundert blieb erhalten. Wer die Kirche betritt, wird von einer schlichten, mittelalterlichen Atmosphäre empfangen – ein Effekt, der durch eine Restaurierung im frühen 20. Jahrhundert entstand, als barocke Elemente entfernt wurden, um die ursprünglichen Strukturen wieder sichtbar zu machen.
San Giorgio in Velabro war zudem die Titelkirche des aus Neunkirchen im Vikariat Süd stammenden Kurienkardinals Alfons Maria Stickler SDB. Er war ein bedeutender Gelehrter des Kirchenrechts und diente lange als Bibliothekar und Archivar der Heiligen Römischen Kirche. Nach seinem Tod fand er hier im rechten Seitenschiff seine letzte Ruhestätte – ein Zeugnis der tiefen Verbindung dieser Kirche mit der katholischen Gelehrsamkeit.
Das Velabrum war in der Antike ein bedeutendes Handelszentrum. Mit dem Forum Boarium, dem Viehmarkt, war es eng verbunden. Erst im 6. Jahrhundert wandelte sich das Viertel in einen religiösen Bezirk, in dem Kirchen die einstigen Handelsplätze verdrängten.
Im 16. Jahrhundert wurde San Giorgio in Velabro auch als „San Giorgio alla Fonte“ bekannt, da sich in der Nähe eine Quelle mit mineralhaltigem Wasser befand. Die älteste gesicherte Erwähnung der Kirche stammt aus der Biografie von Papst Zacharias (741–752), in der die Überführung der Reliquien des Heiligen Georg beschrieben wird. Vermutlich lebte hier einst eine große griechische Gemeinde, die den Kult des Heiligen Georg nach Rom brachte.
San Giorgio in Velabro ist weit mehr als eine Kirche – sie ist ein historisches Symbol, an dem sich römische Mythologie, frühchristliche Tradition und mittelalterliche Frömmigkeit auf eindrucksvolle Weise begegnen. Von den Legenden um Romulus und Remus über die Reliquienverehrung bis hin zur Stationstradition der Fastenzeit spiegelt dieser Ort die enge Verbindung von Geschichte und Glauben im Herzen Roms wider.
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