In jeder Kirche an der wir vorbeikommen zünden wir mindestens vier Kerzen für unsere Lieben daheim an.
In jeder Kirche an der wir vorbeikommen zünden wir mindestens vier Kerzen für unsere Lieben daheim an.
Eine Familie – drei Generationen – macht sich zusammen auf einen nicht selbstverständlichen Weg.
„Wir zünden so viele Kerzerl an, das kommt schon einem Ablasshandel gleich.“ Ein Satz, den ich in dieser Woche öfter sage. Innerhalb von sechs Tagesetappen will ich die Via Sacra von Maria Enzersdorf zum Wallfahrtsort Mariazell bestreiten. Noch bevor ich den ersten Schritt setze, habe ich bereits eine erste Erfahrung gemacht: Wer die Via Sacra in Angriff nimmt, tut das niemals allein. In meinem Fall begleiten mich auf diesem traditionellen Pilgerpfad meine Eltern, am dritten Tag stoßen noch mein Bruder und sein Sohn zu uns und machen diese Erfahrung zu einem familiären „Drei-Generationen-Projekt.“ Aber das ist nicht die Begleitung, die ich meine…
Verwandte, Freunde, Bekannte – Sie alle machen sich gedanklich mit uns auf den Weg. Sie haben uns Glücksbringer oder Reisesegen mitgegeben, ihre Anliegen, kleinere Kümmernisse, aber auch ernsthafte Nöte mitgeschickt. Mit jedem zurückgelegten Kilometer tragen wir auch die Alltagssorgen ein Stück weiter weg – so fühlt es sich zumindest manchmal an. In jeder Kirche an der vorbeikommen zünden wir mindestens vier Kerzen für unsere Lieben daheim an. Gegen Ende der Woche sind es zwei mehr. Es sind Lichter der Dankbarkeit. Wird danken für das gute Wetter und vor allem dafür, dass wir gesund einen um den anderen Kilometer hinter uns bringen – für uns keine Selbstverständlichkeit.
Denn der eigentliche Grund für unsere Pilgerreise ist die Freude darüber, dass wir sie überhaupt gemeinsam machen können. Vor vier Jahren wäre dieses Abenteuer undenkbar gewesen. Mein Vater liegt auf der Intensivstation im künstlichen Koma. Die Worte „Tod“ und „Pflegefall“ fallen das eine oder andere Mal. Diese Ausnahmesituation zwingt die ganze Familie sich mit der Endlichkeit des Lebens auseinanderzusetzen, sie bringt uns aber auch spürbar enger zusammen. Am Ende erholt sich mein Vater, wie durch ein Wunder schafft er es nicht nur zurück ins Leben, sondern auch zurück auf die Wanderwege.
Jetzt – vier Jahre später – stellt die Via Sacra einen 125km langen Dankesmarsch dar. Und es scheint als ob Gott uns dafür belohnt, dass wir uns das antun. Sechs Tage lang dürfen wir bei lachender Sonne durch bunte Herbstwälder, über weite Hügelketten oder entlang von idyllischen Flüsschen wandern. Goldener Laubregen lenkt uns zwar von den vom ständigen Auf- und Ab müden Beinen und dem vom Gewicht des Rucksacks schmerzenden Rücken ab, der Pilgerweg verlangt uns dennoch einiges ab.
Stundenlange Märsche auf asphaltierten Straßen zermürben uns regelmäßig genauso wie Situationen, in denen wir feststellen, dass sich unsere jeweilige Unterkunft am anderen Ende der Zielortschaft befindet. Gutes Schuhwerk bewahrt uns zwar vor Blasen, mein rechtes Knie gibt aber nach dem fünften Tag unter der Dauerbelastung nach. Die sechste und letzte Etappe kann ich nur mithilfe einer Kniemanschette antreten. Schlussendlich humple ich in Mariazell ein.
Im Nachhinein überwiegen aber deutlich die schönen, freudvollen Eindrücke. Sie wirken als bereichernde Erinnerungen nach: die prächtigen Herbstlandschaften, die vielfältigen Kirchen und Kapellen, die Begegnungen mit unseren freundlichen Gastgebern und auch die Täler und Berge, die wir sowohl körperlich als auch mental überwunden haben. Es braucht Zeit, um all diese Impressionen wirklich erfassen zu können. Die nackten Zahlen sagen uns, dass wir gut 130 Kilometer und über 4 000 Höhenmeter zurückgelegt haben. Als wir die letzten Lichter in der Kerzengrotte der Mariazeller Basilika anzünden, wissen wir, wir haben es geschafft – gemeinsam. Gemeinsam als Familie. Gemeinsam mit all unseren Freunden, Verwandten, Bekannten, die mit uns ein Stück Hoffnung mitgeschickt haben. Und wir sind dankbar.
Wir sind 200 000 Schritte der Dankbarkeit gegangen.