In jener Zeit stand Johannes am Jordan, wo er taufte, und zwei seiner Jünger standen bei ihm. Als Jesus vorüberging, richtete Johannes seinen Blick auf ihn und sagte: Seht, das Lamm Gottes! Die beiden Jünger hörten, was er sagte, und folgten Jesus. Jesus aber wandte sich um, und als er sah, dass sie ihm folgten, fragte er sie: Was wollt ihr? Sie sagten zu ihm: Rabbi - das heißt übersetzt: Meister -, wo wohnst du? Er antwortete: Kommt und seht! Da gingen sie mit und sahen, wo er wohnte, und blieben jenen Tag bei ihm; es war um die zehnte Stunde.
Andreas, der Bruder des Simon Petrus, war einer der beiden, die das Wort des Johannes gehört hatten und Jesus gefolgt waren. Dieser traf zuerst seinen Bruder Simon und sagte zu ihm: Wir haben den Messias gefunden. Messias heißt übersetzt: der Gesalbte - Christus.
Er führte ihn zu Jesus. Jesus blickte ihn an und sagte: Du bist Simon, der Sohn des Johannes, du sollst Kephas heißen. Kephas bedeutet: Fels - Petrus.
Aus dem heiligen Evangelium nach Johannes
Joh 1, 35-42
von Kardinal Christoph Schönborn
Die Erinnerung an den Anfang spielt im Leben oft eine große Rolle: Anfang einer Beziehung, eine Freundschaft, einer Liebe. Erste Begegnung, erstes Gespräch, erstes gemeinsames Erlebnis. Je älter wir werden, desto deutlicher tritt die Erinnerung an erste Anfänge hervor. Was gestern war, vergessen ältere Menschen leicht. Aber was vor 40 – 50 Jahren war, das ist lebhaft im Gedächtnis gegenwärtig. Die Gehirnforschung kann dafür auch ganz gute Erklärungen geben. Für manche Jüngere wird es dann zur Geduldsprobe, wenn die Älteren wieder und wieder „von früher“ erzählen. Zugleich kann es etwas sehr spannendes sein, bewusst „den Alten“ zuzuhören. Ich ermutige oft bei Firmungen die Jugendlichen, ihre Großeltern zu fragen, wie das „zu ihrer Zeit“ war. Es tut aber auch gut, die „Anfänge“ des eigenen Lebensweges zu bedenken. „Erinnert euch!“ ist ein Gnadenwort der Bibel. Erinnert euch vor allem an die Anfänge des eigenen Glaubensweges.
Das tut das heutige Evangelium. Es sind, so sehe ich es, die ganz persönlichen Erinnerungen von zweien, die dann Jünger Jesu, Apostel Christi wurden. Den Namen des einen erfahren wir: Andreas, der (wohl ältere) Bruder des Simon Petrus. Der andere ist der Erzähler selber. Er nennt seinen Namen nicht, aber er spricht im Folgenden von „dem Jünger, den Jesus liebte“. Die Überlieferung sagt, es sei dies der Apostel Johannes selbst, der jüngere Bruder des Jakobus, der Sohn des Fischereiunternehmers Zebedäus.
Beide müssen religiös sehr aufgeweckt und suchend gewesen sein, da sie sich dem Täufer Johannes angeschlossen hatten. Alles war voll Erwartung: Bald muss die Zeit der großen Wende kommen, der Tag des Messias. So verstehen wir auch die Art Neugierde, mit der die beiden eines Tages Jesus nachgehen, nachdem Johannes so deutlich auf ihn hingewiesen hatte: „Seht, das Lamm Gottes!“
Unvergesslich bleibt in der Erinnerung des späteren Apostels Johannes die erste Begegnung mit Jesus: „Was wollt ihr?“ Etwas verlegen kommt die Gegenfrage der beiden: „Meister, wo wohnst du?“ Darauf ganz schlicht und unkompliziert die Einladung Jesu: „Kommt und seht!“
So einfach begann es. Eine Einladung mitzukommen und sich anzuschauen, wo Jesus wohnt. Noch viele Jahre, Jahrzehnte später erinnert sich Johannes ganz genau: „Es war um die zehnte Stunde“, also vier Uhr Nachmittag. Sie blieben gleich einen ganzen Tag bei ihm. Was geschah in diesen Stunden? Worüber sprach Jesus? Was sagte er von sich? Was erzählten sie von ihrem Weg? All das wissen wir nicht. Es bleibt ihr ganz persönliches Geheimnis, ihr unauslöschlicher erster Eindruck.
Doch was sich in diesen Stunden abgespielt hat, das können wir aus dem Folgenden ahnen. Andreas holt seinen Bruder Simon, und mit voller Überzeugung sagt er ihm: „Wir haben den Messias gefunden!“ Und er führte Simin zu Jesus. „Unmöglich können wir schweigen von dem, was wir gesehen und gehört haben“, werden Simon Petrus und Johannes später vor dem hohen Rat sagen.
Und wir? Ich denke das heutige Evangelium lädt dazu ein, die eigene Glaubensgeschichte in Erinnerung zu rufen. Deren Höhen und Tiefen, Freuden und Kämpfe. Und auch davon zu erzählen, wenn sich ein guter Moment ergibt. Nur so wird der Glaube glaubwürdig weitergegeben, wie damals, ganz am Anfang.