Als Jesus nach Kafarnaum zurückkam, wurde bekannt, dass er wieder zu Hause war. Und es versammelten sich so viele Menschen, dass nicht einmal mehr vor der Tür Platz war; und er verkündete ihnen das Wort.
Da brachte man einen Gelähmten zu ihm; er wurde von vier Männern getragen. Weil sie ihn aber wegen der vielen Leute nicht bis zu Jesus bringen konnten, deckten sie dort, wo Jesus war, das Dach ab, schlugen die Decke durch und ließen den Gelähmten auf seiner Tragbahre durch die Öffnung hinab.
Als Jesus ihren Glauben sah, sagte er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben!
Einige Schriftgelehrte aber, die dort saßen, dachten im Stillen: Wie kann dieser Mensch so reden? Er lästert Gott. Wer kann Sünden vergeben außer dem einen Gott? Jesus erkannte sofort, was sie dachten, und sagte zu ihnen: Was für Gedanken habt ihr im Herzen? Ist es leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Deine Sünden sind dir vergeben!, oder zu sagen: Steh auf, nimm deine Tragbahre, und geh umher? Ihr sollt aber erkennen, dass der Menschensohn die Vollmacht hat, hier auf der Erde Sünden zu vergeben.
Und er sagte zu dem Gelähmten: Ich sage dir: Steh auf, nimm deine Tragbahre, und geh nach Hause! Der Mann stand sofort auf, nahm seine Tragbahre und ging vor aller Augen weg. Da gerieten alle außer sich; sie priesen Gott und sagten: So etwas haben wir noch nie gesehen.
Markus 2, 1-12
von Kardinal Christoph Schönborn
Was lähmt mich? Der Gelähmte, der heute im Evangelium zu Jesus gebracht wird, der bin ich selber. Heute darf ich auf das schauen, was mich in meinem Leben lähmt. Ängste zum Beispiel. Aussichtslose Situationen. Beziehungsprobleme. Sorge um den Arbeitsplatz. Lähmende innere Unsicherheit. Das Gefühl wie ein Hamster im Rad zu laufen und doch nicht weiter zu kommen. Nichts geht weiter… Lähmende Erstarrung… das ist kein Leben!
Lebendig wird das Evangelium, wenn wir es als unsere eigene Geschichte zu lesen beginnen. Dazu gibt es eine einfache Methode, die mit einiger Übung leicht zu erlernen ist. Zuerst versuche man, sich die Szene lebhaft vorzustellen: den Ort, die Menschen, die handelnden Personen. Im heutigen Evangelium etwa heißt das: wir sind in dem Ort Kafarnaum am See Genezareth. Jesus ist dorthin gezogen als er seine Heimatstadt Nazareth verließ. Ein einfaches, bescheidenes Haus mit flachem Dach. Dicht gedrängt die Menschen, die Jesus sehen, hören, berühren wollen. Ich versuche, mich unter die Leute zu mischen, die Atmosphäre zu spüren. Ich dränge mich vor, um Jesus zu sehen…
Plötzlich Lärm am Dach, die dünne Decke aus Lehm und Holz wird unsanft abgedeckt, und in einer Staubwolke wird von vier Männern eine Tragbahre heruntergelassen, auf der ein gelähmter Mann liegt. Aufregung, Gemurmel. Nur Jesus bewahrt die Ruhe. Ich darf mich als der Gelähmte sehen. Da liege ich auf meiner Pritsche, direkt vor Jesus. Und er schaut mich an. Er spricht mich an. Er sagt: Mein Kind, deine Sünden sind dir vergeben!
Meine Sünden? Sind sie es, die mich lähmen? Die mich behindern, mir leben rauben? Ich beginne nachzudenken. Was blockiert mich? Oft sind es doch einfach körperliche Beschwerden. Mühen eines älter werdenden Körpers. Krankheit. Verletzungen. Was hat das mit Sünde zu tun? Ist Krankheit Strafe? Sind meine körperlichen Leiden die Folge von seelischen Fehlverhalten? Das sagt Jesus nicht. Er sagt nur nicht: Deine Sünden verursachen deine Lähmung! Er will mich ja heilen. Er will, dass ich aufstehe, aus meiner Lähmung herauskomme. Und diese Heilung beginnt mit Gott. Wenn zwischen mir und Gott die Beziehung wieder gut ist, dann strömt das Leben in mir, dann lösen sich die Blockaden, die Erstarrungen. Dann kann ich neu aufstehen.
Das Evangelium spricht von unserem Leben. Ich darf mich in alle handelnden Personen hineinversetzen, darf „mitspielen“ im spannenden Spiel Jesu. Da sind noch diese vier Männer. Gehörte ich zu ihnen? Sie wollen ihren Freund, den Gelähmten, unbedingt zu Jesus bringen. Sie scheuen keine Mühe. Sie lassen sich von keiner Schwierigkeit abschrecken, auch nicht von der Decke, die sie durchstoßen müssen.
„Als Jesus ihren Glauben sah…“ Jesus ist von der Entschlossenheit dieser vier Männer beeindruckt. Ihr Glaube ist groß. Ihr Vertrauen in Jesus macht sie mutig. Auf ihren Mut hin heilt Jesus ihren Freund. Ich kann einer dieser vier sein. Zupacken, helfen, nicht locker lassen: das kann mein Evangelium werden.