In jener Zeit traten einige Griechen, die beim Osterfest in Jerusalem Gott anbeten wollten, an Philippus heran, der aus Betsaida in Galiläa stammte, und sagten zu ihm: Herr, wir möchten Jesus sehen. Philippus ging und sagte es Andreas; Andreas und Philippus gingen und sagten es Jesus.
Jesus aber antwortete ihnen: Die Stunde ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht wird. Amen, amen, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht auf die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht. Wer an seinem Leben hängt, verliert es; wer aber sein Leben in dieser Welt gering achtet, wird es bewahren bis ins ewige Leben.
Wenn einer mir dienen will, folge er mir nach; und wo ich bin, dort wird auch mein Diener sein. Wenn einer mir dient, wird der Vater ihn ehren.
Jetzt ist meine Seele erschüttert. Was soll ich sagen: Vater, rette mich aus dieser Stunde? Aber deshalb bin ich in diese Stunde gekommen. Vater, verherrliche deinen Namen! Da kam eine Stimme vom Himmel: Ich habe ihn schon verherrlicht und werde ihn wieder verherrlichen.
Die Menge, die dabeistand und das hörte, sagte: Es hat gedonnert. Andere sagten: Ein Engel hat zu ihm geredet. Jesus antwortete und sagte: Nicht mir galt diese Stimme, sondern euch. Jetzt wird Gericht gehalten über diese Welt; jetzt wird der Herrscher dieser Welt hinausgeworfen werden. Und ich, wenn ich über die Erde erhöht bin, werde alle zu mir ziehen. Das sagte er, um anzudeuten, auf welche Weise er sterben werde.
Johannes 12, 20-33
von Kardinal Christoph Schönborn
Vor fast vierzig Jahren gab ich meiner theologischen Doktorarbeit ein Wort aus dem heutigen Evangelium als Motto mit auf den Weg. Es war die Bitte jener Pilger, die zum Osterfest nach Jerusalem hinauf gegangen waren. Sie hatten Philippus, einen der zwölf Apostel, gebeten: „Herr, wir möchten Jesus sehen.“ Was hat mich damals an dieser Bitte so bewegt? Was berührt mich bis heute daran?
Meine Doktorarbeit habe ich über die Christus-Ikone geschrieben. Dem Buch war ein gewisser Erfolg beschieden. Es wurde in zehn Sprachen übersetzt. Mir ging es um die alte Frage, ob das biblische Bilderverbot im Christentum weiter besteht, oder ob es erlaubt ist, von Christus und den Heiligen Bilder herzustellen und zu verehren. Manche christliche Konfessionen lehnen dies ab, wie auch das Judentum und der Islam am Bilderverbot festhalten.
Bei unseren orthodoxen Mitchristen werden dagegen die Bilder Christi und der Heiligen, besonders der Muttergottes, sehr verehrt. In der katholischen Tradition spielen Bilder eine große Rolle. Die ganze abendländische Kunst ist davon geprägt.
Mich berührte damals schon, als ich meine Doktorarbeit schrieb, dieser Wunsch griechischer Pilger, Jesus zu sehen. Was bewog sie? Offensichtlich war der Ruf des Mannes aus Nazareth, aus Galiläa, über die Grenzen des Landes hinaus gedrungen. Drängte Neugierde diese Pilger, Jesus sehen zu wollen? Oder war es eine Sehnsucht, eine Ahnung von Einem, dessen Ausstrahlung sie anzog?
Wie oft musste ich vor Christusbildern an diese Bitte der Griechen denken: „Wir wollen Jesus sehen!“ Ich denke, es geht nicht nur mir so. In einer Kirche, in einem Museum, in einem Buch über Kunst, fällt mein Blick auf ein Jesusbild, und plötzlich ist mehr da als nur ein Kunstwerk. Da ist Jemand, dessen Anblick mich berührt. Da fühle ich mich selber als von Seinem Blick berührt. Ja, ich verstehe diesen Wunsch. Auch ich möchte Jesus sehen, einmal seinem Blick begegnen.
Umso mehr wundert mich die Antwort Jesu auf diese Bitte. Wir wissen nicht, ob es schließlich zu einer Begegnung zwischen Jesus und den griechischen Pilgern kam. Jesus scheint aber von deren Wunsch sehr ergriffen gewesen zu sein. Er muss darin ein starkes Zeichen gesehen haben: „Die Stunde ist gekommen, da der Menschensohn verherrlicht wird.“ Meint Jesus, jetzt habe endlich die Stunde des Erfolgs geschlagen, der große Durchbruch stehe bevor: alle Welt werde erkennen, wer Er ist und was Er für die Welt bedeutet?
Ja und nein! Wie sooft sagt Jesus durch ein Bild, ein Gleichnis, worum es geht. Ja, es wird ein großer Erfolg werden, eine riesige Ernte, reiche Frucht. Aber nicht nach weltlichen Maßstäben: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein, wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht“.
Die Griechen, die Jesus sehen wollen, sind die Vorboten der zahllosen Menschen aus allen Völkern der Erde, die kommen werden, um Jesus zu kennen. Aber dazu muss Er zuerst sterben. Sonst bleibt Er allein wie ein unausgesätes Weizenkorn. Sein Tod wird reiche Frucht bringen. Und viele werden von Ihm lernen, dass das Leben nur fruchtbar ist, wenn es sich verschenkt, wie das Weizenkorn…