Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe. Der bezahlte Knecht aber, der nicht Hirt ist und dem die Schafe nicht gehören, lässt die Schafe im Stich und flieht, wenn er den Wolf kommen sieht; und der Wolf reißt sie und jagt sie auseinander. Er flieht, weil er nur ein bezahlter Knecht ist und ihm an den Schafen nichts liegt.
Ich bin der gute Hirt; ich kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich, wie mich der Vater kennt und ich den Vater kenne; und ich gebe mein Leben hin für die Schafe.
Ich habe noch andere Schafe, die nicht aus diesem Stall sind; auch sie muss ich führen, und sie werden auf meine Stimme hören; dann wird es nur eine Herde geben und einen Hirten.
Deshalb liebt mich der Vater, weil ich mein Leben hingebe, um es wieder zu nehmen. Niemand entreißt es mir, sondern ich gebe es aus freiem Willen hin. Ich habe Macht, es hinzugeben, und ich habe Macht, es wieder zu nehmen. Diesen Auftrag habe ich von meinem Vater empfangen.
Johannes 10, 11-18
von Kardinal Schönborn
Jesus nennt sich selber kurz und bündig „der gute Hirte“. Ist es nicht anmaßend, von sich selber zu sagen: „Ich bin der gute Hirte“? Es gibt also auch schlechte Hirten. Wer sind sie? Und gibt es nur einen, der es verdient, als guter Hirte bezeichnet zu werden? Also sind alle anderen schlechte Hirten?
In der Welt der Bibel werden die Regierenden als Hirten bezeichnet, die Könige, die Herrscher, aber auch die religiösen Autoritäten, die Priester. Bezeichnet Jesus sie alle als schlechte Hirten, wenn nur er der gute Hirte ist?
Heute haben „die Hirten“ einen schlechten Ruf. In den meisten Umfragen liegen die Politiker an der untersten Stelle der Wertschätzung, gleich gefolgt von den kirchlichen Autoritäten. Das Vertrauen in „die Hirten“ ist an einen Tiefpunkt angelangt. Die Politiker werden in Bausch und Bogen aller Korruption und Unfähigkeit verdächtigt. Und die kirchliche Autoritäten, Papst, Bischöfe, Priester, gelten bei vielen als unglaubwürdig, durch Skandale und deren Vertuschungen belastet.
Die Kritik an den „Hirten“ ist nicht neu. Schon vor zweieinhalb Jahrhunderten ist der Prophet Ezechiel mit scharfen Worten über die Hirten seiner Zeit, die Politiker du die Priester, hergezogen. Seine unerbittliche Schelte ist auch im Hintergrund der Worte Jesu. Was wirft der alte Prophet den Hirten vor? Dass sie nur an sich selber denken. Dass es ihnen nicht um das wohl der Herde, des Volkes, gehe, sondern um ihren eigenen Nutzen. Sie sollten auch die Not der Menschen schauen, für Gerechtigkeit sorgen, die Herde vor Gefahren schützen. Stattdessen beuten sie sie aus, bereichern sich an ihr und kümmern sich nicht um ihr Wohlergehen. Dieses Kapitel 34 im Buch des Propheten Ezechiel hat es in sich.
Schon damals stellte sich dieselbe Frage wie heute: bleibt es nur bei der Kritik? Politikerschelte und Kirchenkritik? Oder gibt es auch Auswege, Perspektiven, Lösungen? Der Prophet Ezechiel spricht eine große Hoffnung aus: Gott selber werde eingreifen. Er selber werde den Hirtenstab in die Hand nehmen und ihn den korrupten Hirten wegnehmen. Aber wie soll das aussehen? Wird Gott sich auf die Regierungsbank setzen? Er kann doch nicht all die ersetzen, die das Volk regieren, leiten, verwalten. Es Braucht doch immer Menschen, die Leitung wahrnehmen. Genau das verspricht der Prophet: Gott werde einen gerechten Herrscher schicken, einen wie König David, einen, der sich wirklich um das wohl der Menschen kümmert.
Und nun sagt Jesus: Ich bin dieser gute Hirte, den Gott versprochen hat! Und er sagt auch gleich, worin das Besondere seines Hirtenseins besteht: „Der gute Hirte gibt sein Leben hin für die Schafe“. Er dient der Herde statt sich an ihr zu bedienen. Er lebt für sie und setzt alles für sie ein. Und er erkennt die Seinen, er weiß wo sie der Schuh drückt, was ihnen Sorgen und Freuden macht.
Nun mag man einwenden: schön, dass es diesen guten Hirten gibt! Aber was hilft das, wenn die, die uns leiten und regieren, in Staat und Kirche, versagen oder zumindest keine idealen Hirten sind? Dazu zwei Gedanken: Erstens ist Gott nicht untätig. Jesus übt sein Hirtenamt aus. Er ist jedem Menschen nahe. Wir können auf seine Hirtensorge für uns vertrauen, wie er Psalm sagt: „Der Herr ist mein Hirte, nichts wir mir fehlen!“ Und zweitens ist er das große Vorbild für alle, die ein weltliches oder kirchliches Hirtenamt ausüben. Trotz aller (oft auch zu harter) Kritik: viele in Politik und Kirche bemühen sich, dieses Vorbild des guten Hirten nachzuahmen. Ein Segen für alle, wenn es ihren halbwegs gelingt!