Ich bin der wahre Weinstock, und mein Vater ist der Winzer. Jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, schneidet er ab, und jede Rebe, die Frucht bringt, reinigt er, damit sie mehr Frucht bringt. Ihr seid schon rein durch das Wort, das ich zu euch gesagt habe.
Bleibt in mir, dann bleibe ich in euch. Wie die Rebe aus sich keine Frucht bringen kann, sondern nur, wenn sie am Weinstock bleibt, so könnt auch ihr keine Frucht bringen, wenn ihr nicht in mir bleibt. Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht; denn getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen.
Wer nicht in mir bleibt, wird wie die Rebe weggeworfen, und er verdorrt. Man sammelt die Reben, wirft sie ins Feuer, und sie verbrennen.
Wenn ihr in mir bleibt und wenn meine Worte in euch bleiben, dann bittet um alles, was ihr wollt: Ihr werdet es erhalten. Mein Vater wird dadurch verherrlicht, dass ihr reiche Frucht bringt und meine Jünger werdet.
Johannes 15, 1-8
von Kardinal Christoph Schönborn
Der Weinstock ist ein seltsames Gewächs. Er bringt die köstlichen Früchte, die Trauben, aus denen der Wein werden kann. Aber als Holz, für sich genommen, ist er völlig unbrauchbar. Aus dem Nussbaum kannst du schöne Möbel machen, auch aus dem Kirschbaum. Aus dem Weinstock kannst du nicht einmal Pflöcke für den Weingarten machen. Er taugt nur zum Verheizen.
Aber auch die Trieb des Weinstocks sind eigenartig. Gewiss, man muss alle Obstbäume stutzen, beschneiden, pflegen. Mehr aber als alles müssen die Rebzweige bearbeitet werden. Jedes Jahr muss der Weinstock radikal von allen Rebzweigen befreit werden. Im Winter bleibt nur der kahle Stock. Und wenn er wieder treibt und blüht und ausschlägt, muss er sorgfältig gereinigt und beschnitten werden, damit die guten Triebe reiche Frucht tragen.
Jesus weiß wovon er spricht, wenn er sich selber mit dem Weinstock vergleicht, Gott seinen Vater als den Winzer bezeichnet und uns als die Rebzweige. Die Bildsprache ist auch vielen in unserem Weinbau reichen Österreich vertraut. Aber was will Jesus mit dieser Bildrede sagen?
Beginnen wir bei dem was uns betrifft: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben“. Rebzweige, die vom Weinstock abgeschnitten sind vertrocknen in kürzester Zeit. Ich sehe sie vor mir, diese „Rebscharln“ wie man im Weinviertel sagt, die da am Rand des Weingartens liegen, abgeschnitten, verdorrt, und wenn sie nicht zum Anheizen verwendet werden, wie das früher üblich war, dann vermodern sie schnell: „ Wer nicht in mir bleibt, wird wie die Rebe weggeworfen, und er verdorrt. Man sammelt die Reben, wirft sie ins Feuer, und sie verbrennen.“
Kein Mensch kann ohne Wurzeln leben. Wir brauchen die Verbundenheit mit einem Wurzelgrund, aus dem wir leben. Dazu gehören die Familie, die Freunde, die Zugehörigkeit zu einem Land, zu einer Sprache und Kultur, zu einer Religion. All das gibt Halt und Heimat. Weh dem Menschen, der ohne es leben muss. Er gleicht einem abgeschnittenen Rebzweig.
Jesus geht aber weiter. Nicht um irgendeinen Wurzelgrund geht es. Die Heimat können wir verlieren. Viele kennen das heute. Die Familie kann zerbrechen. Sprache und Kultur können und fremd werden. Jesus aber bleibt: „Ich bin der wahre Weinstock“; und: „Wer in mir bleibt und in wem ich bleib, der bringt reiche Frucht“. Denn getrennt von mir könnt ihr nichts tun“. Nichts? Können wir ohne ihn, ohne Jesus, ohne Gott, wirklich nichts tun?
Ich glaube, Jesus meint das ganz wörtlich. Gott ist der Grund meines Lebens. Jesus ist der Weinstock, aus dem mein Leben Saft und Kraft bekommt. Ich kann zwar versuchen, sozusagen auf mein eigenes Konto zu leben, jede Abhängigkeit ablehnen, mein eigener Herr, meine eigene Chefin zu sein versuchen. Aber das ist ebenso unsinnig wie eine Rebe sein zu wollen ohne am Weinstock zu bleiben.
Oft vergessen wir das, denken nicht an unseren Ursprung, an die Quelle, aus der unser Leben in jedem Augenblick hervorgeht. Deshalb muss der göttliche Winzer in unser Leben eingreifen. Es trifft uns schmerzlich, wenn er uns kräftig zurückstutzt, manches wegschneidet, was uns unentbehrlich erscheint, und was doch nur Ballast, unfruchtbare Triebe waren.
Ein schöner, an reifen Trauben praller Weinstock ist etwas Herrliches. So will Gott uns Menschen. Dazu hat er uns Jesus als den guten, wahren Weinstock gegeben. Mit ihm will er uns fest verbunden wissen. Dazu reinigt er uns, damit unser Leben fruchtbar wird. Sollten wir Gelegenheit haben, jetzt durch Weingärten zu wandern, sehen wir sie uns an – als Bild des eigenen Lebens, als Hoffnung auf eine gute, erfüllte Lebensernte.