"Ich glaube nicht, dass die Menschen grundlegend weniger religiös sind." Freilich: Die Suche nach dem Sinn im Leben folge nicht mehr den traditionellen Formen - wie auch die heutige Lebensform nicht mehr die traditionelle sei, so Kardinal Schönborn.
"Ich glaube nicht, dass die Menschen grundlegend weniger religiös sind." Freilich: Die Suche nach dem Sinn im Leben folge nicht mehr den traditionellen Formen - wie auch die heutige Lebensform nicht mehr die traditionelle sei, so Kardinal Schönborn.
Wiener Erzbischof beklagt nach Ehrung durch Land Vorarlberg in "VN"-Interview politisches Hickhack und "Gesellschaft von Steinewerfern". Sinnsuche auch abseits traditionell kirchlicher Formen sieht Schönborn "gar nicht so dramatisch". Landeshauptmann Wallner würdigt Werthaltungen und Einfühlungsvermögen Schönborns.
"Bitte schaut auf das Österreich der Nachkriegszeit": Am damaligen Hauptaugenmerk auf Zusammenhalt trotz bestehender politischer Kontroversen soll man sich laut Kardinal Christoph Schönborn ein Beispiel nehmen, um die gegenwärtigen Krisen zu bewältigen. "Wir gehen in eine ganz schwere Zeit", befürchtete der Wiener Erzbischof im Interview der "Vorarlberger Nachrichten" (VN) (Dienstag). 75 Jahre des kontinuierlichen Aufschwungs seien "in jeder Hinsicht vorbei". Schönborns lapidare Antwort auf die Frage, was es brauche, wenn Armut immer mehr zum Thema wird: "Zusammenhalt." Wenn Österreich aus der sich absehbar weiter verschlechternden wirtschaftlichen Krise herauskommen wolle, "müssen wir es gemeinsam machen".
Anlass für das VN-Interview war die Auszeichnung des Wiener Erzbischofs mit dem Goldenen Ehrenzeichen des Landes Vorarlberg am Montagabend. Landeshauptmann Markus Wallner verlieh die Auszeichnung aufgrund der tiefen Verbundenheit Schönborns mit dem Land und den Menschen. Der Wiener Kardinal war 13 Jahre lang in Schruns im Montafon aufgewachsen und hatte 1963 in Bludenz maturiert.
Angesprochen auf das aktuelle Sittenbild der Politik in Österreich erinnerte Schönborn an das berühmte Wort, das Jesus in einem dramatischen Zusammenhang gesagt habe: "Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein." Seinem Eindruck nach herrsche heute jedoch "eine Gesellschaft von Steinewerfern" vor. Auch in der Nachkriegszeit sei politisch gekämpft worden, "aber die Verantwortlichen haben gewusst, es geht nur gemeinsam". Wenn Fehlverhalten vorhanden ist, müsse dies natürlich geklärt werden, räumte der Kardinal ein. Zuständig sieht Schönborn hier die Justiz "und nicht zuerst die Medien". Er frage sich manchmal, wenn das politische Hickhack einen Höhepunkt erreicht: "Haben alle vor der eigenen Tür gekehrt?"
Angerissen wurden in dem Interview auch weitere aktuelle Themen in Gesellschaft und Kirche. Zur Spaltung wegen des Umgangs mit der Covid-Pandemie sagte Schönborn, er erlebe diese Spaltung auch in der näheren Verwandtschaft. Er habe großes Vertrauen in die Wissenschaft und wisse um die Seriosität der dort Arbeitenden, "aber dass Menschen Ängste haben, habe ich vielleicht zu wenig ernst genommen".
Die voranschreitende Distanzierung vieler Menschen zur Kirche wollte der Kardinal nicht überbewerten. Dies sei eine gesamteuropäische Entwicklung, die selbst katholisch geprägte Länder wie Polen und die Slowakei erfasse. "Ich glaube nicht, dass die Menschen grundlegend weniger religiös sind." Freilich: Die Suche nach dem Sinn im Leben folge nicht mehr den traditionellen Formen - wie auch die heutige Lebensform nicht mehr die traditionelle sei. "Ich sehe das gar nicht so dramatisch", sagte Schönborn. Wenn er heute in Schruns die Messe feiere, dann wisse er: "Die, die jetzt da sind, die sind aus Überzeugung da. Nicht, weil man muss."
Die Suche nach Sinn und Halt sei gerade in Krisenzeiten stark spürbar, auch bei jungen Menschen, wie Schönborn darlegte. Die Formen, in denen sich das ausdrücke, "werden jedoch nicht für alle in den klassischen Kirchen sein". Sie fänden aber Ausdruck in Ritualen der Kirche.
Zur brennenden Frage nach der Rolle der Frau in der Kirche verwies der Kardinal auf den "ganz großen Schritt", den Papst Franziskus gemacht habe: In der neuen Verfassung für die Ämter des Vatikans sei festgehalten, dass alle Ämter grundsätzlich von Getauften geleitet werden können, von Männern und Frauen. Die Frage des Amtes in der Kirche sei für ihn aber "nicht die primäre Frage, sondern jene der Verantwortung".
Auf die immer wieder gestellte Frage an den 77-jährigen Wiener Erzbischof, wie lange er noch im Amt sein werde, verwies er auf die Entscheidung des Papstes. Auch nach seiner Emeritierung werde er aber sicher im Dienst und Seelsorger bleiben und sich "nicht auf die Kanarischen Inseln zurückziehen und Pensionist sein". Wie sein Vorgänger Kardinal König wolle er unter den Leuten bleiben.
Auf die Frage, was ihm die Auszeichnung in Vorarlberg bedeutet, erinnerte Kardinal Schönborn an seine kriegsbedingte Verwurzelung im "Ländle": "Ich musste an das Büble denken, das da mit sechs Jahren mit einer Flüchtlingsfamilie nach Schruns kam und nun diese Auszeichnung bekommt, das berührt einen." Er empfinde eine große Dankbarkeit Vorarlberg gegenüber. "Es ist uns wirklich eine Heimat geworden."
Landeshauptmann Wallner nannte die Verleihung der höchsten von Vorarlberg zu vergebenden Auszeichnung an Schönborn beim Festakt am Montag im Bregenzer Montfortsaal eine "gebührende Geste der Wertschätzung, des Dankes und der Anerkennung". Er sehe sich in vielen Wertefragen dem Kardinal sehr nahe, "etwa beim hohen Wert für unsere Familien, oder auch beim Schutz des Lebens", so der Landespolitiker in seiner Laudatio. Wallner betonte das "herzliche, offene Wesen", die Art und Weise, wie der Kardinal auf sein Gegenüber zugehe "und auch sein besonderes Einfühlungsvermögen". Aufgrund der engen Beziehung zu seiner Mutter Eleonore, die im Februar im Alter von 101 Jahren in Schruns verstarb, sei Schönborn ein regelmäßiger Besucher Vorarlbergs gewesen.