Veranstalter Öhler nach SNTS-Treffen an Uni Wien mit 400 Bibelkundigen aus aller Welt: Interdisziplinarität und "Decolonizing" geben neue Impulse. Krieg, Ausgrenzung und feministische Exegese waren Thema.
Auch Neutestamentlerinnen und Neutestamentler bekommen es zu spüren, dass in den gegenwärtigen, auf ökonomische Verwertbarkeit ausgerichteten Forschungswelten mehr auf die sogenannten MINT-Fächer Wert gelegt wird aus auf die Geisteswissenschaften.
Fragen wie "Wie verhalten wir uns zu den Problemen der Gegenwart?" und "Wie stehen wir in der wissenschaftlichen Community da?" seien auch bei der weltgrößten Neutestamentler-Tagung vielfach gestellt worden, die Ende Juli an der Universität Wien stattfand, berichtete der evangelische Bibelwissenschaftler Prof. Markus Öhler im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Kathpress (Donnerstag).
Öhler war gemeinsam mit seinem katholischen Kollegen Prof. Markus Tiwald Veranstalter des 77. General-Treffens der "Studiorum Novi Testamenti Societas" (SNTS), die 400 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt Ende Juli vier Tage lang nach Wien führte. Darunter nicht nur Bibelforschende unterschiedlicher Konfessionen, sondern auch Althistorikerinnen, Soziologen oder Philosophie-Lehrende. Diese Interdisziplinarität ist nach den Worten Öhlers auch eines der Erfolgsrezepte gegen den wissenschaftlichen Rechtfertigungsdruck und der Tatsache, dass gerade in den westlichen Demokratien das Interesse an der Erforschung der Bibel und der Theologie insgesamt abnimmt.
Eine andere Reaktion in der Bibelwissenschaft sei "Decolonizing" - was laut Öhler bedeutet, Exegese aus verschiedener Perspektive zu betreiben und wertzuschätzen. Der historisch-kritische Zugang zur Bibel werde zunehmend in seinem westlichen Entstehungskontext gesehen, die in Wien versammelten Fachleute aus Amerika, Afrika und Asien hätten auch andere Arten der Annäherung an die Jahrtausende alten Texte eingebracht. Die SNTS schreibe sich den Dialog zwischen diesen verschiedenen Perspektiven auf ihre Fahnen, erklärte der evangelische Theologe.
Damit setze die SNTS einen Kontrapunkt zu Bestrebungen, die Theologie auf einen konfessionellen "Markenkern" zu verengen. Die Ausrichtung auf gesellschaftliche Relevanz war - wie Öhler weiter berichtete - auch bei der Themenwahl mit insgesamt 78 Vorträgen in unterschiedlichen Kategorien (Haupt- und Nebenvorträge, Beiträge in Seminargruppen) erkennbar: Aufgegriffen wurden mit Bezugnahmen auf das Lukasevangelium Fragen rund um Pazifismus und Ukrainekrieg, der vor allem in den USA hochbrisante Slogan "Black Lives Matter" mit Bibelstellen zur Sklaverei bei Paulus oder dessen Galaterbrief (Gal 3,28), wonach vor Gott Unterschiede zwischen Juden und Griechen, Sklaven und Freien, Mann und Frau irrelevant werden.
Auch feministische Exegese spielte bei der NT-Tagung eine Rolle, so Öhler. Schon bei der Festlegung der Hauptvorträge werde auf geschlechtliche Parität wie auch geographische Vielfalt geachtet.
Auch das Rahmenprogramm in Wien habe zum Erfolg der Tagung beigetragen, hieß es in einer Zusammenfassung der Veranstalter. Es gab ein Konzert mit einem Streichquartett des Bruckner Orchester Linz, einen Heurigen-Besuch mit eigens bereit gestellten Straßenbahnen der Wiener Linien und andere Gelegenheiten, "Wien von seinen schönsten Seiten kennenzulernen". Im Sommer 2024 tagt die SNTS in Melbourne (Australien).