Pilotstudie zeigt Zunahme psychischer Belastung bei Kindern und Jugendlichen auch nach Corona. Berufsverband fordert Therapie für Altersgruppe auf Kassenkosten. Kooperationsprojekt mit KPH Wien/Krems stärkt Präventionsarbeit an Schulen.
Eine erschreckend hohe psychische Belastung von Kindern und Jugendlichen hat der Bundesverband für Psychotherapie (ÖBVP) festgestellt. Suizide in dieser Altersgruppe sind sprunghaft angestiegen - wofür eine am Donnerstag in Wien präsentierte Pilotstudie erstmals Hintergründe aufzeigt. Einen Hoffnungsschimmer sehen die Studienautoren in der Möglichkeit, Kinder und Jugendliche präventiv widerstandsfähiger gegen Belastungen zu machen. Eine Kooperation des Bundesverbandes mit der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule (KPH) Wien/Krems will diese Resilienz-Förderung nun auch für Schulen und Jugendorganisationen nutzbar machen.
"In unserer täglichen Praxis bekommen wir den Anstieg der Belastungen bei Kindern und Jugendlichen hautnah mit: Schlafstörungen, Alkohol- und Substanzmissbrauch sowie auch ein eklatanter Anstieg von Essstörungen und die Zunahme bei Suizidgedanken oft mehrmals täglich", berichtete ÖBVP-Präsidentin Barbara Haid bei der Pressekonferenz. Besonders drastisch sichtbar sei die Entwicklung bei den Suiziden: Minderjährige bildeten jene Gruppe, in welcher sich 2022 der Gesamtanstieg bei den Suiziden - die zuvor jahrelang weniger wurden - am stärksten ausgewirkt habe: "um 57 Prozent, auf 35", wie Haid erklärte.
Um den Ursachen auf den Grund zu gehen, startete der Bundesverband im Sommer eine Pilotstudie, an der sich knapp 100 im Kinder- und Jugendbereich tätige Psychotherapeuten aus ganz Österreich - die meisten in Privatpraxis tätig - beteiligten. "Ziel war einerseits zu erheben, was unsere Kinder und Jugendlichen so sehr belastet. Zugleich wollten wir wissen, ob es Unterstützungen und möglichst einfache Interventionen gibt, welche die hohen Suizidzahlen reduzieren können", so Studienleiter Prof. Peter Stippl.
Klar zeigte sich: "Die psychischen Belastungen für junge Menschen sind mit dem Ende der Pandemie nicht vorbei, sondern nehmen weiter zu", resümierte Studien-Koautor Markus Böckle. Bei 71 Prozent der in Therapie befindlichen Kindern und Jugendlichen seien die Belastungen in den vergangenen 12 Monaten höher als im Jahr davor gewesen. Bei rund 31 Prozent der Behandelten bestanden Sorgen um Suizidalität vonseiten der Therapeuten. Von 37 Prozent der Behandelten wurden Suizidversuche geäußert, bei 8 Prozent erfuhren die Therapeuten von einem Suizid.
Als Faktoren für diese Zunahme sahen die Therapeuten vor allem Nachwirkungen der Covid-19-Pandemie (42 Prozent), gefolgt von schulischen Problemen (41 Prozent) und generell psychische Erkrankungen (40 Prozent), sowie familiäre Probleme (36 Prozent) und schließlich Mobbing oder Cybermobbing (28 Prozent). Auch die Kriegs-Nachrichten oder die Klimakrise spielten eine Rolle, ergänzte Stippl. Der problematische Umgang mit Sozialen Medien habe zudem die Fähigkeit zur Krisenbewältigung verschlechtert: Das Selbstvertrauen liege bei vielen darnieder, Zukunftsängste und Pessimismus nähmen stattdessen überhand.
Für ein Abwenden akuter Notsituationen müsse einerseits das Behandlungsangebot aufgestockt werden, unterstrich ÖBVP-Präsidentin Haid. "Wir brauchen dringend öffentlich finanzierte Psychotherapie für Kinder und Jugendliche, ohne Einschränkung der Dauer und Anzahl der Patienten." Zwar gibt es bereits jetzt Angebote wie die kostenlose psychotherapeutische Beratungshotline "fit4school" (05-12561734) und das Projekt "Gesund aus der Krise", das Kindern kostenlose Beratung und Therapie vermittelt und demnächst in die dritte Runde geht. "Für 15 Prozent der hier Behandelten reichen die gebotenen 15 Therapiestunden jedoch nicht aus", pochte Haid auf Übernahme durch die Regelversorgung.
"Ganz eine wichtige Schnittstelle ist die Schule", verwies die ÖBVP-Präsidentin weiters auch darauf, dass Kinder dort viel Zeit verbringen. Eine Verbesserung könnte auch die Veränderung der Lehrpläne bedeuten, regte sie ein eigenes Schulfach Gesundheitskompetenz an oder das Thema in verschiedene Fächer zu integrieren. Konzepte und ein Bewusstsein für die Notwendigkeit gäbe es bereits, die Umsetzung sei aber "sehr, sehr schleppend", kritisierte Haid.
Dass das Thema psychische Gesundheit an Hochschulen und Schulen schon länger angekommen ist, unterstrich Prof. Roland Bernhard von der KPH Wien/Krems. "Schule ist für viele Kinder der einzige Ort, an dem sie noch Struktur erleben - besonders wenn sie aus dysfunktionalen Familien kommen, in denen die Eltern wenig Zeit haben, sich um die Kinder zu kümmern", so der Bildungsforscher. Wenn dann auch in Freundeskreisen oftmals das Prinzip "Entweder du bist Täter oder Opfer, Katze oder Maus" herrsche, bleibe dann nur noch die Schule als Ort psychischen Wohlbefindens. Was sie oft auch tatsächlich sei, denn: "Es gibt so viel engagierte Lehrpersonen da draußen, die den Kindern eine wichtige psychische Stütze sind", unterstrich Bernhard. Da die Pädagogen dabei jedoch oft an Grenzen kämen, seien Kooperationen etwa mit "Gesund aus der Krise" sehr wertvoll.
Bernhard empfahl auch die Implementierung von Konzepten zur Charakterbildung für Kinder, die in sehr vielen Ländern "boomen" würden und bereits ab dem Kindergarten zum Einsatz kommen könnten. "Charakterbildung hat Zukunft. Dabei geht es darum, bei Kindern gezielt Stärken wie Mut, Resilienz, Ehrlichkeit, Respekt und Dankbarkeit zu fördern, was auch ihrem psychischen Wohlbefinden und Glück zugutekommt und sie aufblühen lässt", so der Experte. Metaanalysen hätten inzwischen bestätigt, dass sich damit auch die Lernergebnisse verbessern. Sogar die OECD diskutiere gerade darüber, das "Aufblühen" - in der Pädagogik "Florishing" genannt - stärker als zentrales Ziel von Bildung zu definieren, neben dem bisherigen Fokus auf standardisierte Tests. Vonseiten der KPH Wien werden dazu Materialien und Beratungsangebote erarbeitet.
Auch außerschulische Kontexte trügen zu einer Steigerung des Selbstwerts und damit der "Krisenbewältigungskraft" bei, unterstrich Studienleiter Stippl. "Idealerweise geschieht dies in der Familie. Viele Kinder und Jugendlichen entwickeln Selbstvertrauen zudem auch durch ehrenamtliches Engagement, etwa bei der Nachwuchs-Arbeit des Roten Kreuzes oder der Freiwilligen Feuerwehr, ebenso wie im Sport oder beim Erlernen eines Musikinstruments. Sie lernen dabei schrittweise, wie sie Herausforderungen und Probleme umgehen können und erhalten positives Feedback. Das stärkt ihre Resilienz und ihren Optimismus nachhaltig", so der ÖBVP-Vizepräsident.
Sprechen Sie mit anderen Menschen darüber. Die Telefonseelsorge ist rund um die Uhr und gebührenfrei unter der Notrufnummer 142 erreichbar sowie unter www.telefonseelsorge.at.
Spezielle Hilfe für Jugendliche bietet "Rat auf Draht", Rufnummer 147, sowie "fit4school", Rufnummer 05-12561734, sowie das Projekt "Gesund aus der Krise" https://gesundausderkrise.at.
Hilfsangebote für Personen mit Suizidgedanken und deren Angehörige bietet das Gesundheitsministerium unter www.suizid-praevention.gv.at.