Antworten von Kardinal Christoph Schönborn in der Tageszeitung HEUTE am 23. August 2024
Heute schreibe ich über ein Grundwort unseres Zusammenlebens. Es stammt aus der Bibel und reicht bis in den Wahlkampf hinein: die Nächstenliebe. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, heißt es im biblischen Buch Levitikus. Doch wer ist das, mein „Nächster“? Sind damit nur die Menschen in meiner nächsten Umgebung gemeint, nur Familie, Freunde, nur Österreicherinnen und Österreicher? „Österreich zuerst“ – ist das Ausdruck gelebter Nächstenliebe?
Klar: Es ist wichtig und richtig, sich zuerst um die nächsten Angehörigen zu kümmern, um die eigenen Kinder und Eltern, um Verwandte und Bekannte, um die eigene Heimat. Doch die Reichweite der Nächstenliebe hat keine Grenzen. Erst recht darf sie niemanden ausschließen. Schon wenige Zeilen weiter heißt es in der Bibel: „Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben wie dich selbst“. Wer sich auf die biblische Nächstenliebe beruft, der muss auch im geflüchteten Menschen den Nächsten sehen. Denn niemand ist davor gefeit, einmal selber in die Lage zu kommen, fliehen zu müssen oder Hilfe zu brauchen – angewiesen zu sein auf seinen Nächsten.