"Der Schöpfer hat offensichtlich in unsere menschliche Natur das 'Programm Mitleid' eingebaut. Es liegt an uns, dieses Programm auch zu entwickeln, zu leben. Dann geschehen echte Wunder der Mitmenschlichkeit", so Kardinal Schönborn.
"Der Schöpfer hat offensichtlich in unsere menschliche Natur das 'Programm Mitleid' eingebaut. Es liegt an uns, dieses Programm auch zu entwickeln, zu leben. Dann geschehen echte Wunder der Mitmenschlichkeit", so Kardinal Schönborn.
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium am Sonntag, 9. Juni 2013.
Es gibt nur einen Grund, warum Jesus diesen Toten auferweckt hat: Er hatte Mitleid mit der Frau, der Mutter dieses Toten, der ihr einziger Sohn war, ihr einziger Halt. Denn sie war Witwe. Jesus ist von Mitleid ergriffen. Es erbarmt ihn, das Leid dieser Frau zu sehen. Erbarmen ist das Thema des heutigen Evangeliums: die Fähigkeit, Mitleid zu empfinden, Anteilnahme, Mitgefühl.
Was für ein Gefühl ist das? Woher kommt es? Wie "funktioniert" es? Eines ist sicher: Jesus hat es oft empfunden, und sich nie gescheut, es zu zeigen. Es ist geradezu ein Kennzeichen Jesu: seine Barmherzigkeit, sein herzliches Mitgefühl, seine Fähigkeit, mit leidenden Menschen mitzuleiden, und zuvor, Leid überhaupt wahrzunehmen.
Das geschieht ganz offensichtlich in der Szene des heutigen Evangeliums. Stellen wir uns vor. Jesus kommt "mit einer großen Menschenmenge", die ihn begleitet, zum Statthalter von Nain. Dort ist es eng. Alle müssen durch das Tor, um in die Stadt zu gelangen. Ausgerechnet in diesem Moment kommt ein Leichenzug durch das Stadttor heraus. Alle Autofahrer kennen solche Momente, in denen man plötzlich warten muss. Wahrscheinlich denken wir in diesem Moment kaum an das Leid der Angehörigen, die da hinter dem Sarg gehen. Wir schauen nur ärgerlich auf die Uhr und berechnen, wie viel Zeit wir durch das Warten verlieren.
Jesus nimmt mit einem Blick wahr, welches Leid da durch das Stadttor auf ihn zukommt. Er denkt nicht an sich, seinen Plan, seine Termine, sondern "ist ganz Aufmerksamkeit, ganz Zuwendung". Für ihn gibt es nur mehr diese Frau in ihrem Schmerz, in ihrer Not und Trauer. Das griechische Wort für Erbarmen, Mitleid bedeutet wörtlich: die Eingeweide, der Mutterschoß. Für die Bibel ist das Mitgefühl so etwas wie Ergriffensein bis ins Innerste, das Empfinden einer Mutter für ihr Kind.
Jesus richtet den Toten wieder auf, ruft ihn ins Leben zurück und gibt ihn wieder seiner Mutter. Das Wunder der Totenerweckung ist sicher das Auffälligste an dieser Szene. Aber die Mitte, der Grund für Jesu Wunder ist sein Mitleid mit der Mutter. Totenauferweckungen sind selten. Sie kamen und kommen immer wieder vor. So groß solche Wunder sind, größer noch ist das Erbarmen. Und dieses Wunder kann täglich geschehen, und wir könne es selber vollbringen.
Mitgefühl ist menschlich. Es ist sogar in unser Gehirn "programmiert". In den letzten Jahren wurde viel über die sogenannten "Spiegelneuronen" geforscht. Sie bewirken, dass ich spiegelartig auf die Gefühle anderer antworte. Ich sehe, wie jemand sich verletzt – und zucke zusammen, als empfände ich selber den Schmerz. Der Schöpfer hat offensichtlich in unsere menschliche Natur das "Programm Mitleid" eingebaut. Es liegt an uns, dieses Programm auch zu entwickeln, zu leben. Dann geschehen echte Wunder der Mitmenschlichkeit.
In jener Zeit ging Jesus in eine Stadt namens Nain; seine Jünger und eine große Menschenmenge folgten ihm. Als er in die Nähe des Stadttors kam, trug man gerade einen Toten heraus. Es war der einzige Sohn seiner Mutter, einer Witwe. Und viele Leute aus der Stadt begleiteten sie. Als der Herr die Frau sah, hatte er Mitleid mit ihr und sagte zu ihr: Weine nicht! Dann ging er zu der Bahre und fasste sie an. Die Träger blieben stehen, und er sagte: Ich befehle dir, junger Mann: Steh auf! Da richtete sich der Tote auf und begann zu sprechen, und Jesus gab ihn seiner Mutter zurück. Alle wurden von Furcht ergriffen; sie priesen Gott und sagten: Ein großer Prophet ist unter uns aufgetreten: Gott hat sich seines Volkes angenommen. Und die Kunde davon verbreitete sich überall in Judäa und im ganzen Gebiet ringsum.