400.000 Kinder sind in der Ukraine auf der Flucht.
400.000 Kinder sind in der Ukraine auf der Flucht.
Mehr als 5.000 Tote hat der Krieg in der Ostukraine bisher gefordert. 1,3 Millionen Menschen, darunter 400.000 Kinder, sind auf der Flucht vor einem Konflikt, den niemand versteht. Caritas-Auslandshilfechef Christoph Schweifer hat die vom Krieg betroffenen Menschen in der Region Donezk besucht.
Am Morgen des 3. Juli 2014, genau um 8.25 Uhr, hat sich das Leben von Wassiliy für immer verändert. An diesem Tag, in diesem Moment, schlug im Zentrum von Nikolaiwka eine Bombe ein. Sie traf genau jenen Wohnblock, in dem Wassiliy mit seiner Frau und vielen anderen Menschen lebte. Elf Bewohner kamen dabei ums Leben. Darunter auch seine Frau. "Erst einige Tage später haben wir sie unter den Trümmer gefunden", erzählt der 58-jährige. Der Leichnam sei völlig entstellt gewesen. Er selbst sei völlig unverletzt geblieben, sagt er, äußerlich. Doch innerlich ist er sichtlich gebrochen.
Oft kommt Wassiliy noch zu jener Stelle, wo einst sein Wohnhaus stand. Der Schutt liegt immer noch dort. Dazwischen erinnert ein Blumenkranz an die Toten. Das Loch klafft in der Häuserzeile wie ein stummes Mahnmal, in dem die ganze Sinnlosigkeit des Krieges deutlich wird. Nikolaiwka war nie direktes Kriegsgebiet. Die Bombe sichtlich fehlgeleitet. Und niemand will sagen, woher sie kam.
Von einer Minute auf die andere obdachlos fand Wassiliy einige Straßen weiter im Zentrum von Nikolaiwka eine neue Unterkunft: ein sechs Quadratmeter großes Zimmer in einem Wohnblock. Sechs Quadratmeter, auf denen er jetzt sein Dasein fristen muss. Eine kleine Invalidenpension sichert ihm das physische Überleben. "Ich kann die Angriffe nicht erklären. Ich kann den Krieg nicht erklären", sagt der 58-Jährige. Wie es weitergehen soll, weiß er nicht.
Manchmal bekommt er Besuch von Zoja. Die 61-jährige alleinstehende Frau besitzt eine Wohnung im Wohnblock gegenüber. Die Tränen rinnen der Frau über die Wangen, als sie davon erzählt, wie im Juli eine Granate genau in ihrer Wohnung einschlug und alles zerstörte. Drei Personen, die zufällig an dem Wohnhaus vorbeigingen, seien dabei getötet worden, berichtet die Frau. Sie habe damals Gott sei Dank schon Schutz im Keller gesucht, doch all ihr Hab und Gut sei verloren.
Die Caritas hat ihr durch ein Hilfsprojekt die Außenmauer wieder aufgebaut, neue Fenster und eine Eingangstür eingebaut. Doch für die Einrichtung der Wohnung fehlen der Frau jedwede Mittel. Deshalb müsse sie bei Freunden übernachten, sagt sie. Zoja steht verloren in ihrer Küche, umringt von nichts als kahlen Wänden. Da kommt ihre Nachbarin zur Tür herein. Es sei eine Schande, wie man mit dieser armen Frau umgeht, schimpft sie, niemand würde ihr helfen. Die Caritas nimmt sie freilich aus. Aber die Behörden seien einfach säumig.
Vera Pawlovna ist sich dieser Problematik bewusst. Sie koordiniert für die Caritas die Nothilfe in der Stadt Slowjansk und Umgebung, wozu auch das kleine Städtchen Nikolaiwka gehört. Weder Zoja noch Wassiliy sind Flüchtlinge. Sie haben ja die Stadt, in der sie wohnen, nicht verlassen. Trotzdem haben sie so gut wie alles verloren. Und bis auf die Caritas gibt es keine Stelle, die ihnen hilft.
In der Industriestadt Slowjansk im Oblast Donezk im Osten der Ukraine ist im vergangenen Sommer der Krieg ausgebrochen. Die einstige Hochburg der Separatisten wurde allerdings bald schon von der ukrainischen Armee zurückerobert. Wir fahren mit Vera Pawlowna zum Stadtrand. Sie zeigt uns ein bei den Kampfhandlungen völlig zerstörtes Krankenhaus. In dem sei ihr Vater gelegen. Als das Spital beschossen wurde, seien die Patienten verlegt worden, erzählt Vera. Für ihren Vater sei die Anstrengung aber zu viel gewesen. Er sei bald darauf gestorben.
Bei den Kämpfen in und rund um Slowjansk wurden zahlreiche Gebäude zerstört, unzählige Fenster zerschossen. Die Caritas hilft, so gut sie kann. Etwa durch ein Hilfsprojekt, durch das zerstörte Wohungen wieder hergestellt werden, damit die Menschen den Winter überstehen. So habe man beispielsweise schon über 1.000 neue Fenster eingebaut, erzählt Yuriy Nakoneechnyy, der für dieses Projekt zuständig ist. "Die Leute hier haben so viel Grauenhaftes erlebt, viele sind traumatisiert. Trotzdem müssen wir jetzt hart arbeiten und die Zukunft neu aufbauen", sagt er. Deshalb richtet die Caritas nicht nur die vielen zerstörten Wohnungen wieder her, sondern etwa auch einen Kindergarten oder einen kleinen Sportsaal für Kinder. Damit diese wieder zurückfinden in ein normales Leben, erklärt Yuriy. Ohne Unterstützung durch die Caritas in Österreich wäre das alles freilich nicht möglich.
In einem kleinen Haus im Zentrum von Slowjansk hat die Caritas eine Anlaufstelle für Flüchtlinge eingerichtet. Vor dem Eingang warten rund 15 Personen. Drinnen nehmen in einem kleinen Raum fünf Sozialarbeiterinnen die Daten der Flüchtlinge auf. Die Dokumente der Hilfsbedürftigen werden eingescannt und nach Charkiv in die Zentrale geschickt. Dort werden die Daten nochmals überprüft, dann sind die Flüchtlinge registriert. In einem ersten Projekt habe man bereits mehr als 1.000 Flüchtlinge aufgelistet, in einem zweiten Projekt, das seit einiger Zeit läuft, sind auch schon mehr als 300 Personen registriert, erzählt Caritas-Mitarbeiterin Nina. Zwischen 20 und 100 Personen würden jeden Tag an die Tür der Caritas klopfen. Die Zahl hänge auch von der Intensität der Kampfhandlungen ab. Dabei bedeuten relative ruhige Tage mehr Flüchtlinge, denn nur dann können die Menschen aus den umkämpften Gebieten heraus, weiß Nina. Sie ist selbst auch ein Flüchtling, so wie 90 Prozent aller Caritas-Mitarbeiter in Slowjansk.
Schwangere Frauen, Familien mit mehreren Kindern und Personen, die sonst die keinerlei Unterstützung bekommen - sie sind die bevorzugte Klientel der Caritas. Die Registrierten bekommen umgerechnet 300 Euro Starthilfe, um sich mit dem Nötigsten zu versorgen: Nahrung, Kleidung, Hygieneartikel, Medikamente. Die Sozialarbeiterinnen helfen auch bei der Suche nach einer Wohnmöglichkeit. Oft müssten sich bis zu zehn Personen ein kleines Zimmer teilen, erzählt Nina. Bis zu 30 Personen würden dann gemeinsam in einer kleinen Wohnung leben, mit einer gemeinsamen Küche und Toilette. Daneben gebe es auch noch Sammelunterkünfte. Diese würden sich aber beispielsweise in Kinderferienlagern befinden und seien nicht winterfest.
Die Arbeit hilft Nina, nicht ständig an ihre eigene Flucht denken zu müssen. Jeden Tag ist sie freilich mit tragischen Schicksalen konfrontiert. Menschen, die ihr Haus, viele auch Angehörige oder Freunde verloren haben. Ob sie Anzeichen erkennen könne, dass sich die Situation bessert? Nina schüttelt den Kopf. Trotzdem: Die Hoffnung stirbt immer zuletzt. Diesen Spruch gibt es auch im Russischen.
Einige Straßenzüge weiter in einem Plattenbau im Zentrum der Stadt besuchen wir die 30 jährige Julia und ihre Familie. Sie stammen aus Horliwka, einer kleinen Stadt in der Nähe von Donezk, mitten im umkämpften Gebiet. "Am 21. Juli war es tagsüber noch völlig ruhig", erzählt sie. Und plötzlich in der Nacht zum 22. Juli lag ihr Haus plötzlich zwischen den Fronten des Krieges. Nach einer furchtbaren Nacht im Keller packten Juli und ihr Mann die Koffer und flohen mit den beiden Kindern Richtung Westen. "Wir wissen nicht, wer geschossen hat, wir sind einfach nur weg", erzählt sie mit leiser Stimme. Eine Antwort, die wir dieser Tage von Flüchtlingen wie Einheimischen immer wieder zu hören bekommen. Niemand weiß, wer geschossen hat. Zumindest will es niemand sagen. Alle jedoch beteuern übereinstimmend: Niemand habe sich vorstellen können, dass so etwas einmal hier passieren könne. Der Krieg war unvorstellbar.
Julia, ihr Mann und die Kinder schafften es mit dem Auto nach Slowjansk. Hier waren sie erst einmal in Sicherheit. Die ersten Wochen übernachteten sie in einem Ferienlager, doch schon Anfang September sei es dort unerträglich kalt gewesen, erzählt Julia. Mithilfe der Caritas fanden sie eine kleine Wohnung, wo sie nun auf wenigen Quadratmetern leben.
Der neunjährige Maxim kann in Slowjansk zur Schule gehen, der elf Monate alte Kyrill sitzt auf dem Schoß der Mutter und möchte interessiert nach den Mikrofonen der Journalisten greifen. Er versteht noch nicht, was in den letzten Monaten rund um ihn alles passiert ist. Sein älterer Bruder freilich hat schon alles mitbekommen und ist nach wie vor im Fernsehen mit dem Grauen des Krieges konfrontiert. "Er hat immer noch Albträume in der Nacht", erzählt seine Mutter. Deshalb haben sie auch die Hilfe eines Psychologen in Anspruch genommen.
Maxim ist beileibe kein Einzelfall. Bis zu 80 Prozent der Kinder aus den Kriegsgebieten sind schwer traumatisiert, erzählt der ukrainische Caritaspräsident Andrij Waskowycz. Mit den Folgen dieses Krieges werde die Ukraine noch lange zu kämpfen haben, auch wenn die Kampfhandlungen einmal vorbei sein werden.
Fast 1,3 Millionen Menschen haben bisher vor dem Krieg in der Ostukraine flüchten müssen. Ein Drittel davon, rund 400.000, sind Kinder. Die kriegerischen Auseinandersetzungen haben bereits mehr als 5.000 Todesopfer gefordert. Dramatische Zahlen, hinter denen sich aber lauter tragische Einzelschicksale verbergen, wie jenes von Julia und ihrer Familie.
Ohne Lebensmittel- und Kleidungsspenden der Caritas und einer protestantischen Kirche vor Ort könnten sie nicht überleben, erzählt Julia. Arbeit zu finden sei für ihren Mann fast unmöglich: "Niemand hier will jemandem Arbeit geben, der vielleicht in zwei oder drei Monaten wieder weg ist", sagt sie: "Zu Hause haben wir alles, hier nichts."
Natürlich würden sie auch gerne zurückgehen, doch das sei schlicht unmöglich. Julia: "Wenn in den Nachrichten zu hören ist, dass es einen Waffenstillstand gibt, glauben wir es nicht. Wir telefonieren fast täglich mit unseren Verwandten und Freunden vor Ort. Es wird ständig geschossen. Alle wollen weg. Doch wegen der Kämpfe können sie nicht." An die Zukunft will die junge Mutter nicht denken. Sie ist aber der Bevölkerung in Slowjansk dankbar. "Die Menschen hier haben selbst sehr viel mitgemacht. Dennoch helfen sie jetzt uns."
Auch der ukrainische Caritaspräsident Andrij Waskowycz betont die große Solidarität der Ukrainer untereinander. So gibt es laut dem Präsidenten allein in Charkiw, der zweitgrößten Stadt in der Ukraine, rund 120.000 Binnenflüchtlinge – bei 1,4 Millionen Einwohnern. "Sie sind nicht sichtbar, es ist eine zweite Stadt in der Stadt entstanden", sagt Waskowycz. Allerdings sei "die Gesellschaft an ihren Grenzen angelangt". Hilfe ist notwendig, "doch es ist nichts in der Staatskasse".
Caritas-Auslandshilfechef Christoph Schweifer zeigt sich bei seinem Besuch in Slowjansk und Nikolaiwka tief betroffen: Das Ausmaß der Zerstörungen sei ungeheuer. Und am schlimmsten: "Das hier ist keine Naturkatastrophe. Diese Zerstörung, dieser Krieg ist völlig unsinnig. Es gibt nichts zu gewinnen, für niemanden. Die Menschen verstehen ja selbst nicht, was hier passiert, und warum." Die Caritas könne keinen dauerhaften Frieden schaffen, das sei Aufgabe der Politik, so Schweifer: "Aber wir können den Menschen hier sagen und zeigen, dass wir sie nicht allein lassen."
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Kennwort: Kinder in Not