Sie haben so gut wie alles verloren. Und bis auf die Caritas gibt es keine Stelle, die ihnen hilft.
Sie haben so gut wie alles verloren. Und bis auf die Caritas gibt es keine Stelle, die ihnen hilft.
Ukraine: In der Stadt Slowjansk macht die Caritas zerstörte Wohnungen wintertauglich und gibt Flüchtlingen das Nötigste.
Am Morgen des 3. Juli 2014, genau um 8.25 Uhr, hat sich das Leben von Wassiliy für immer verändert. An diesem Tag schlug im Zentrum von Nikolaiwka eine Bombe ein. Sie traf genau jenen Wohnblock, in dem Wassiliy mit seiner Frau und vielen anderen Menschen lebte. Elf Bewohner kamen dabei ums Leben. Darunter auch seine Frau. „Erst einige Tage später haben wir sie unter den Trümmer gefunden“, erzählt der 58-Jährige. Der Leichnam sei völlig entstellt gewesen. Er selbst sei völlig unverletzt geblieben, sagt er, äußerlich. Doch innerlich ist er sichtlich gebrochen.
Oft kommt Wassiliy noch zu jener Stelle, wo einst sein Wohnhaus stand. Der Schutt liegt immer noch dort. Dazwischen erinnert ein Blumenkranz an die Toten. Das Loch klafft in der Häuserzeile wie ein stummes Mahnmal, in dem die ganze Sinnlosigkeit des Krieges deutlich wird. Nikolaiwka war nie direktes Kriegsgebiet. Die Bombe sichtlich fehlgeleitet. Und niemand will sagen, woher sie kam.
Von einer Minute auf die andere obdachlos fand Wassiliy einige Straßen weiter im Zentrum von Nikolaiwka eine neue Unterkunft: ein sechs Quadratmeter großes Zimmer in einem Wohnblock. Sechs Quadratmeter, auf denen er jetzt sein Dasein fristen muss. Eine kleine Invalidenpension sichert ihm das physische Überleben. „Ich kann die Angriffe nicht erklären. Ich kann den Krieg nicht erklären“, sagt der 58-Jährige. Wie es weitergehen soll, weiß er nicht.
Manchmal bekommt er Besuch von Zoja. Die 61-jährige alleinstehende Frau besitzt eine Wohnung im Wohnblock gegenüber. Die Tränen rinnen der Frau über die Wangen, als sie davon erzählt, wie im Juli eine Granate genau in ihrer Wohnung einschlug und alles zerstörte. Drei Personen, die zufällig an dem Wohnhaus vorbeigingen, seien dabei getötet worden, berichtet die Frau. Sie habe damals Gott sei Dank schon Schutz im Keller gesucht, doch all ihr Hab und Gut sei verloren.
Die Caritas hat ihr durch ein Hilfsprojekt die Außenmauer wieder aufgebaut, neue Fenster und eine Eingangstür eingebaut. Doch für die Einrichtung der Wohnung fehlen der Frau jedwede Mittel. Deshalb müsse sie bei Freunden übernachten. Zoja steht verloren in ihrer Küche, umringt von nichts als kahlen Wänden. Da kommt ihre Nachbarin zur Tür herein. Es sei eine Schande, wie man mit dieser armen Frau umgeht, schimpft sie, niemand würde ihr helfen. Die Caritas nimmt sie freilich aus. Aber die Behörden seien einfach säumig.
Vera Pawlovna ist sich dieser Problematik bewusst. Sie koordiniert für die Caritas die Nothilfe in der Stadt Slowjansk und Umgebung, wozu auch das kleine Städtchen Nikolaiwka gehört. Weder Zoja noch Wassiliy sind Flüchtlinge. Sie haben ja die Stadt, in der sie wohnen, nicht verlassen. Trotzdem haben sie so gut wie alles verloren. Und bis auf die Caritas gibt es keine Stelle, die ihnen hilft.
In der Industriestadt Slowjansk im Oblast (das ist ein größer Verwaltungsbezirk) Donezk im Osten der Ukraine ist im vergangenen Sommer der Krieg ausgebrochen. Die einstige Hochburg der Separatisten wurde allerdings bald schon von der ukrainischen Armee zurückerobert. Wir fahren mit Vera Pawlowna zum Stadtrand. Sie zeigt uns ein bei den Kampfhandlungen völlig zerstörtes Krankenhaus. In dem sei ihr Vater gelegen. Als das Spital beschossen wurde, seien die Patienten verlegt worden, erzählt Vera. Für ihren Vater sei die Anstrengung aber zu viel gewesen. Er sei bald darauf gestorben.
Bei den Kämpfen in und rund um Slowjansk wurden zahlreiche Gebäude zerstört, unzählige Fenster zerschossen. Die Caritas organisiert ein Hilfsprojekt, durch das zerstörte Wohungen wieder hergestellt werden, damit die Menschen den Winter überstehen.
In einem kleinen Haus im Zentrum von Slowjansk hat die Caritas eine Anlaufstelle für Flüchtlinge eingerichtet. Zwischen 20 und 100 Personen würden jeden Tag an die Tür der Caritas klopfen, erzählt Caritas-Mitarbeiterin Nina. Die Zahl hänge auch von der Intensität der Kampfhandlungen ab. Dabei bedeuten relative ruhige Tage mehr Flüchtlinge, denn nur dann können die Menschen aus den umkämpften Gebieten heraus. Nina ist selbst auch ein Flüchtling, so wie 90 Prozent aller Caritas-Mitarbeiter in Slowjansk.
Schwangere Frauen, Familien mit mehreren Kindern und Personen, die sonst keinerlei Unterstützung bekommen sind die bevorzugte Klientel der Caritas. Die Registrierten bekommen umgerechnet 300 Euro Starthilfe, um sich mit dem Nötigsten zu versorgen: Nahrung, Kleidung, Hygieneartikel, Medikamente. Die Sozialarbeiterinnen helfen auch bei der Suche nach einer Wohnmöglichkeit. Oft müssten sich bis zu zehn Personen ein kleines Zimmer teilen, erzählt Nina. Bis zu 30 Personen würden dann gemeinsam in einer kleinen Wohnung leben, mit einer gemeinsamen Küche und Toilette. Daneben gebe es auch noch Sammelunterkünfte. Diese würden sich aber beispielsweise in Kinderferienlagern befinden und seien nicht winterfest.
„Die Menschen hier haben selbst sehr viel mitgemacht. Dennoch helfen sie jetzt uns“, sagt die 30-jährige Julia, die mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern im Juli 2014 aus Horliwka, einer kleinen Stadt in der Nähe von Donezk, nach Slowjansk geflohen ist. Mithilfe der Caritas fanden sie eine kleine Wohnung, wo sie nun auf wenigen Quadratmetern leben.
Auch der ukrainische Caritaspräsident Andrij Waskowycz betont die große Solidarität der Ukrainer untereinander. So gibt es allein in Charkiw, der zweitgrößten Stadt in der Ukraine, rund 120.000 Binnenflüchtlinge bei 1,4 Millionen Einwohnern. „Sie sind nicht sichtbar, es ist eine zweite Stadt in der Stadt entstanden“, sagt Waskowycz. Allerdings sei „die Gesellschaft an ihren Grenzen angelangt“.
Hilfe sei dringend notwendig, appelliert der Caritaspräsident.
Fast 1,3 Millionen Menschen haben bisher vor dem Krieg in der Ostukraine flüchten müssen. Ein Drittel davon, rund 400.000, sind Kinder. Die kriegerischen Auseinandersetzungen haben bereits mehr als 5.000 Todesopfer gefordert.
Auf diese dramatischen Zahlen haben der österreichische Caritaspräsident Michael Landau und der ukrainische Caritaspräsident Andrij Waskowycz aufmerksam gemacht.
Die Ukraine ist Schwerpunktland der diesjährigen Caritas-Kinderkampagne. Laut Angaben von UNICEF sind insgesamt an die 1,7 Millionen Kinder vom Konflikt in der Ostukraine betroffen, viele von ihnen können derzeit keine Schule besuchen. An die 200 Bildungseinrichtungen – Schulen und Kindergärten – wurden zerstört. Landau: „Die Zahl der Flüchtlinge, die aus den umkämpften Gebieten um Donezk und Luhansk fliehen, wird weiter steigen – und damit wird auch der Bedarf an Lebensmitteln, Wasser, Decken, Medikamenten, winterfester Kleidung und Hygieneartikeln weiter zunehmen."
Wegen der schwierigen Versorgungslage im Kriegsgebiet der Ostukraine sind nach Angaben des örtlichen römisch-katholischen Bischofs bereits Dutzende Menschen verhungert. Bischof Stanislav Szyrokoradiuk, der auch Präsident der römisch-katholischen Caritas der Ukraine ist, sagte, angesichts der Gefechte hätten zahlreiche alleinstehende alte Menschen das Haus nicht verlassen und niemand ihnen wenigstens Brot bringen können. „Unsere Pfarren haben schon viele solche Menschen beerdigt“, so der Bischof.
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Kennwort: Kinder in Not
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