"Zwischen der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit Gottes gibt es letztlich keinen Widerspruch. Gott bewahrt sein Volk nicht vor dem Gericht, sondern er rettet es durch das Gericht hindurch", so Ludger Schwienhorst-Schönberger.
"Zwischen der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit Gottes gibt es letztlich keinen Widerspruch. Gott bewahrt sein Volk nicht vor dem Gericht, sondern er rettet es durch das Gericht hindurch", so Ludger Schwienhorst-Schönberger.
Gott ist barmherzig und gerecht, das lehrt schon das Alte Testament, so Univ.-Prof. Ludger Schwienhorst-Schönberger im SONNTAG-Gespräch mit Stefan Kronthaler.
Gott offenbart sich Mose als „barmherziger und gnädiger Gott, langmütig, reich an Huld und Treue“ (Exodus 34,6). Was heißt das für unser Gottesbild?
Schwienhorst-Schönberger: Barmherzigkeit Gottes heißt nicht, dass Gott über die Sünde hinwegsieht. Und es heißt schon gar nicht, Menschen in einer Fehlhaltung zu stabilisieren, um sie vor unangenehmen Einsichten zu bewahren. Das käme einer Banalisierung der Gottesrede gleich. In Exodus 34 offenbart sich Gott seinem Volk, das vor dem Abgrund steht und der Rettung bedarf, als ein barmherziger Gott. Was war geschehen? Am Sinai, dem Berg der Offenbarung, hat sich das Volk Israel wider besseres Wissen „Göttern aus Gold“ zugewandt.
Der Herr sieht, dass sein Volk ins Verderben läuft. Sein Zorn entbrennt, um es zu vernichten. Einem Volk, das seinem Gott den Rücken zukehrt, wird die Gegenwart Gottes unerträglich: „Ich selbst ziehe nicht in deiner Mitte hinauf, denn du bist ein störrisches Volk. Es könnte sonst geschehen, dass ich dich unterwegs vertilge“ (Ex 33,3). Aber wie soll das Volk ohne Gott den Weg in das Land der Verheißung finden? In dieser dramatischen Situation springt Mose in die Bresche. Er vermittelt zwischen Gott und dem Volk und führt beide Schritt für Schritt einander wieder zu. Dabei wird das Volk zu der Erkenntnis geführt, dass es gesündigt hat. Es „legt seinen Schmuck ab“ (Ex 33,5) und gibt damit seine Bereitschaft zu erkennen, sich von seiner verfehlten Lebensform abzuwenden.
Nach diesem schwierigen Prozess, bei dem der Ausgang immer wieder auf der Kippe steht, schließt der Herr einen Bund und offenbart sich als „ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig und reich an Huld und Treue. Er bewahrt tausenden (Generationen) Huld, nimmt Schuld, Sünde und Frevel weg, aber er spricht nicht einfach frei. Er prüft die Schuld der Väter bei den Söhnen und Enkeln, bei der dritten und vierten Generation“ (Ex 34,6f).
Was besagt die Beziehung zwischen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit?
Schwienhorst-Schönberger: Zwischen der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit Gottes gibt es letztlich keinen Widerspruch. Gott bewahrt sein Volk nicht vor dem Gericht, sondern er rettet es durch das Gericht hindurch. Am Beispiel des Propheten Micha sei dies veranschaulicht. Der Prophet tritt im Namen Gottes auf. Mit der Lebenswirklichkeit des Volkes ist dieser ganz und gar nicht einverstanden. Angeklagt werden in erster Linie Personen mit Leitungsfunktion: Richter, falsche Propheten und Großgrundbesitzer. „Weh denen, die auf ihrem Lager Unheil planen und Böses ersinnen!“ (Mi 2,1). Sie wollen Micha den Mund verbieten: „Prophezeit nicht!“ (Mi 2,6).
Dabei berufen sie sich auf die Güte Gottes und meinen: Alles nicht so schlimm, uns kann nichts passieren. „Ist nicht der Herr in unserer Mitte? Kein Unheil kann über uns kommen“ (Mi 3,11). Diese Leute wünschen sich einen Propheten, der „sich nach dem Wind dreht“ und dem Volk „Wein und Bier prophezeit“ (Mi 2,11). Doch sie täuschen sich. Jerusalem und der Tempel werden zerstört (Mi 3,12). Jetzt ist die Not groß. In der schmerzhaften Einsicht in die eigene Schuld und in der intensiven Auseinandersetzung mit einer verfehlten Lebensform schält sich die Hoffnung auf ein neues Leben heraus.
Im Licht dieser Hoffnung preist die Gemeinde am Ende des Buches in einem feierlichen Hymnus die Barmherzigkeit seines Gottes: „Wer ist ein Gott wie du, der Schuld vergibt und an der Verfehlung vorübergeht für den Rest seines Eigentums? Er hält nicht für immer fest an seinem Zorn, denn er liebt es, gnädig zu sein. Er wird sich unserer wieder erbarmen (racham) und unsere Schuld zertreten“ (Mi 7,18f). Um zu verstehen, was im Alten Testament Barmherzigkeit Gottes heißt, darf man also nicht einfach die Bibel aufschlagen, einen Satz aus seinem Zusammenhang herausnehmen und mit ihm begründen, was man „immer schon wusste“ und sagen wollte, sondern man muss das gesamte argumentative und narrative Gefüge der jeweiligen Schrift, letztlich der gesamten Bibel, in den Blick nehmen. Wie schon der heilige Augustinus sagt, ist nur derjenige „ein eifriger Erforscher der Heiligen Schrift, der sie zuerst ganz gelesen hat und sie gut kennt, wenn er auch noch nicht alles völlig verstanden hat“ (Über die christliche Bildung, 2. Buch, 24).
„Mein Herz wendet sich gegen mich, mein Mitleid lodert auf. Ich will meinen glühenden Zorn nicht vollstrecken und Efraim nicht noch einmal vernichten“, heißt es beim Propheten Hosea (Kapitel 11). Wie ist das zu verstehen?
Schwienhorst-Schönberger: Im Prinzip begegnen wir auch hier der bereits genannten Struktur. Gott ist zunächst einmal unbarmherzig. „Gib ihr den Namen Lo-Ruchama, das heißt: Kein Erbarmen! Denn von jetzt an habe ich kein Erbarmen mehr mit dem Haus Israel, nein, ich entziehe es ihnen“ heißt es in Hosea 1,6. Auch hier wird die Fehlhaltung des Volkes nicht in einer falsch verstandenen Barmherzigkeit stabilisiert, sondern aufgedeckt, nicht um es bloßzustellen, sondern um es zu heilen.
„Mein Volk kommt um, weil ihm die Erkenntnis fehlt“ (Hos 4,6). Vor allem Priester und falsche Propheten werden angeklagt, weil sie das Volk in die Irre führen. Die Einsicht in das Ausmaß und die Tiefe der Schuld führt den Propheten zu der Erkenntnis, dass die „Störung“ zwischen Gott und seinem Volk bis weit in die Geschichte zurück reicht: „Als Israel jung war, gewann ich ihn lieb, ich rief meinen Sohn aus Ägypten. Je mehr ich sie rief, desto mehr liefen sie mir davon“ (Hos 11,1f). Doch auch hier gilt: Gottes Liebe bleibt. Es kommt zu einem „Herzensumsturz in Gott“: „Mein Herz wendet sich gegen mich, mein Mitleid lodert auf ... Denn Gott bin ich und nicht ein Mensch („Mann“, hebräisch: isch), der Heilige in deiner Mitte. Darum komme ich nicht in der Hitze des Zornes“ (Hos 11,8f).
Die biblischen Autoren bedienen sich auch sehr häufig des Wortes „rachamim“ (abgeleitet von „rächäm“ – Mutterschoß). Ist das nicht ein Merkmal, das der Liebe der Frau und Mutter eigentümlich ist?
Schwienhorst-Schönberger: Eines der hebräischen Worte für „barmherzig“ (rachum) ist mit rächäm „Mutterleib“ verwandt. So scheint in der Barmherzigkeit Gottes ein Verhalten auf, das in besonderer Weise mit dem liebenden und sorgenden Verhalten einer Mutter gegenüber ihrem Kind in Verbindung gebracht wird. Entsprechend wird von einigen der „Herzensumsturz in Gott“ in Hosea 11 als ein spezifisch mütterliches Verhalten angesehen.
Welche Bedeutung haben die Psalmen, die sehr oft von Barmherzigkeit sprechen?
Schwienhorst-Schönberger: Neben dem Verhältnis von Barmherzigkeit und Schuld kommt in den Psalmen in besonderer Weise das Verhältnis von Barmherzigkeit und Not in den Blick. Auch hier bilden Gerechtigkeit und Barmherzigkeit keinen Gegensatz. In Ps 112,4 wird die sonst nur Gott vorbehaltene Prädikation „gnädig und barmherzig“ auf den Gerechten übertragen. „Den Redlichen erstrahlt in der Finsternis ein Licht, als gnädig und barmherzig und gerecht.“ Die Gerechtigkeit erweist sich gerade darin, dass der Gerechte gnädig und barmherzig ist, das heißt: dem Notleidenden hilft und das Seine ordnet, wie es recht ist (Ps 112,5).
Univ.-Prof. Dr. Ludger Schwienhorst-Schönberger lehrt Altes Testament an der Universität Wien.
Jahr der Barmherzigkeit in der Erzdiözese Wien
Weitere Informationen zu "Der SONNTAG" die Zeitung der Erzdiözese Wien