"Mit dem Ruf 'Im Namen Gottes des Allerbarmers, des Barmherzigen' beginnen 113 der 114 Koransuren", erklärt Martin Rupprecht und betont die überaus große Rolle der Barmherzigkeit im Selbstbild des Islam.
"Mit dem Ruf 'Im Namen Gottes des Allerbarmers, des Barmherzigen' beginnen 113 der 114 Koransuren", erklärt Martin Rupprecht und betont die überaus große Rolle der Barmherzigkeit im Selbstbild des Islam.
Wenn gelebtes Christentum einem Muslim zu liebevollerer Ausübung des eigenen Glaubens verhilft, "sind wir schon einen großen Schritt weiter, sagt der Experte für den christlich-islamischen Dialog, Martin Rupprecht.
Das Hervorheben von Barmherzigkeit als gemeinsames Merkmal kann dabei helfen, eine Brücke zwischen den Religionen zu bauen: Das hat Pfarrer und Dechant von Wien-Fünfhaus, Martin Rupprecht, im Interview mit "Kathpress" unterstrichen. Rupprecht gilt als ausgewiesener Kenner des christlich-islamischen Dialogs. 2006 hatte er eine eigene Kontaktstelle für christlich-islamische Begegnung in der Erzdiözese Wien gegründet. Ein neues Zugehen auf andere werde für die Kirche durch das kommenden "Jahr der Barmherzigkeit" und das vor 50 Jahren verabschiedete Konzilsdokument "Nostra aetate" deutlich erleichtert. Ein "Lernen von Mensch zu Mensch" auch über Glaubensgrenzen hinweg sei dort möglich, wo es "empathisches Hineinfühlen" und liebevollen Umgang gebe, so seine Erfahrung.
Das am 8. Dezember beginnende "Heilige Jahr" soll auf Wunsch von Papst Franziskus Begegnung und Dialog mit anderen Religionen sowie gegenseitiges Verständnis fördern: "Es überwinde jede Form der Verschlossenheit und Verachtung und vertreibe alle Form von Gewalt und Diskriminierung", heißt es im Ankündigungsschreiben "Misericordiae vultus" wörtlich. Auch außerhalb der Kirche habe Barmherzigkeit eine zentrale Rolle und zähle insbesondere im Judentum und Islam zu den wichtigsten Eigenschaften Gottes, erinnerte der Papst. Auch etwa die Muslime wüssten sich "in der täglichen Schwachheit von der Barmherzigkeit begleitet und getragen" und glaubten, "dass niemand der göttlichen Barmherzigkeit Grenzen setzen kann, denn ihre Tore stehen immer offen".
"Mit dem Ruf 'Im Namen Gottes des Allerbarmers, des Barmherzigen' beginnen 113 der 114 Koransuren", betont auch Rupprecht die überaus große Rolle der Barmherzigkeit im Selbstbild des Islam. Von Mohammed sei der Ausspruch überliefert: "In den Zeiten, in denen eure Herzen voller Barmherzigkeit sind, verpasst nicht die Gelegenheit das Gebet auszuüben", was vom türkischen Theologen Yaar Nuri Öztürk so kommentiert wurde, dass die Gebete barmherziger Menschen von Gott "am meisten geschätzt" würden.
Barmherzigkeit sei im Islam allen Geschöpfen gegenüber entgegenzubringen, erläutert Rupprecht. Auch "andersgläubige" Menschen würden "zuerst als Mitmenschen betrachtet, da der Koran immer darauf hinweist, dass wir alle von Adam und Eva abstammen". Der 1960 verstorbene Theologe Bediüzzaman Said Nursi habe Barmherzigkeit als das beschrieben, "was diesen unendlichen Kosmos belebt, die Finsternis allen Seins erleuchtet und diesen vergänglichen Menschen zum Anwärter für die Ewigkeit und dem Herrn aller Ewigkeit zu seinem Ansprechpartner und Freund macht". Der ganze Koran müsse mit der Brille der Barmherzigkeit gelesen werden, forderte der Religionswissenschaftler Mouhanad Khorchide in seinem Buch "Islam ist Barmherzigkeit".
In starkem Kontrast zu diesem Selbstanspruch stehen durch Islamisten begangene Terrorattentate der jüngsten Vergangenheit: "Über 99 Prozent der Muslime" würden diese nach Einschätzung Rupprechts ablehnen. Dennoch treffe es zu, dass gewisse islamische Kreise jenes Feindbild geprägt hätten, das Extremismus bis hin zur Tötung anderer ermöglichte. Der Dialogexperte mahnte zu einem Blick in die Geschichte: Vergleichbar manchen islamischen Geistlicher hätten auch christliche Priester vor rund 100 Jahren gegen Juden gehetzt, was sich auch hier bei Zuhörern verselbständigt habe: "Jedes Schriftstück und jede Predigt trug bei zu dem, was später zum Holocaust führte."
Im Alltag von Muslimen spielt Barmherzigkeit hingegen eine große Rolle, so Rupprecht. Christen könnten besonders von der ausgeprägten Fastenkultur lernen, die in Europa längst verloren gegangen sei: "Das islamische Fasten macht für Reich und Arm gleichermaßen Hunger und Schmerz erlebbar - und soll in die Situation dessen einfühlen lassen, der nichts zu essen hat." Weitere Praktiken sind Sozialabgaben oder Spendenaufrufe oder Opferfest-Beiträge für ärmere Länder beim Opferfest, die Rupprecht mit der Idee des katholischen Weltmissionssonntags vergleicht. Bei manchen Sozial- und Fastenaktionen kooperieren die Muslimische und die Katholische Jugend bereits.
Wie Muslime die "Barmherzigkeit" im Christentum einschätzen, hängt stark vom jeweiligen Land ab. In Österreich hätten sich Imame erstaunt gezeigt über den hohen Organisationsgrad der 25 Teilbereiche der kategorialen Seelsorge in Wien, berichtet Rupprecht aus Erfahrungen von Dialogtreffen zwischen Priestern und Imamen. Dass die muslimische Glaubensgemeinschaft ihr Handeln hierzulande bislang weniger stark ausdifferenziert habe, sei Folge eines Denkens in Familienverbänden, die sich jedoch ebenfalls spürbar auflösen: "Dass es in Pflegeheimen erstmals auch Muslime gibt, die völlig ohne Angehörige sind, ist eine neue Situation."
Durchaus würden Muslime Werke der Hingabe und Opferbereitschaft von Christen wahrnehmen, verwies der Experte auf Erfahrungen in der Wiener Pfarre Hildegard Burjan. 3.000 Flüchtlings- Nächtigungen konnten hier seit September im Pfarrsaal ermöglicht werden. "An der Wand hängt ein Kreuz und die Flüchtlinge spüren, dass sie bei Christen zu Gast sind. Wenn diese Erfahrung bei ihnen das eigene Glaubensleben verändert und ihnen hilft, ihr Muslimsein barmherziger und liebevoller zu gestalten, dann sind wir schon einen großen Schritt weiter", so der Priester, der hier den Auftrag "Geht hinaus und lehrt, was ich euch geboten habe!" verwirklicht sah. "Ähnliches gilt, wenn ein Muslim durch mein Beten beginnt, seinen eigenen Glauben zu entdecken."
Diese Perspektive habe erst das Zweite Vatikanische Konzil mit "Nostra aetate" möglich gemacht, wo festgeschrieben wurde "Lehnt nichts ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist", erklärte Rupprecht. Ermahnt wurde hier zu Klugheit und Liebe im Gespräch - "dass die Werte in anderen Religionen anerkannt, gewahrt und sogar gefördert werden". Umgesetzt auf den Umgang mit Flüchtlingen bedeute dies, ihnen das muslimische Gebet und Fasten zu ermöglichen und etwa das Schweinefleisch-Verbot nicht ins Lächerliche zu ziehen, betonte der Priester.