Gertrudes Familie im Jahr 1939, bereits in der Emigration, hier in Zagreb: Gertrude (Mitte) mit den Eltern Ernst und Gisela sowie den Brüdern Josef und Heinz Peter (v. l.).
Gertrudes Familie im Jahr 1939, bereits in der Emigration, hier in Zagreb: Gertrude (Mitte) mit den Eltern Ernst und Gisela sowie den Brüdern Josef und Heinz Peter (v. l.).
Mit ihren Eltern und ihren zwei Brüdern wird Gertrude im Jahr 1944 nach Auschwitz deportiert. Ihre Familie wird von den Nazis ermordet. Nur sie kommt nach dem Krieg wieder zurück nach Wien – alleine.
Es gibt Straßen in Wien, die meidet Gertrude.
Nie wieder hat sie seit dem Krieg die Orte ihrer Kindheit im 12. und 20. Gemeindebezirk besucht.
„Das schaffe ich nicht“, sagt die 88-Jährige, „ich habe bis heute nicht verkraftet, was passiert ist.“
Gertrude ist zehn Jahre alt, als Adolf Hitler im Jahr 1938 in Österreich einmarschiert.
Damals ist sie bereits Katholikin – schon Jahre zuvor nämlich hat ihre ursprünglich jüdische Familie sich katholisch taufen lassen: „Auf Wunsch meines Vaters. Ich weiß bis heute nicht, warum er so gern Katholik sein wollte.“
Dass sie eigentlich Juden sind, erfahren Gertrude und ihre zwei jüngeren Brüder mit dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland.
„Plötzlich sind wir verfolgt worden“, sagt die Wienerin. Der Vater, ein gelernter Kunst- und Möbeltischler, wird willkürlich vorübergehend inhaftiert. Danach wird der Familie ihre Gemeindewohnung weggenommen.
„Da hat mein Vater beschlossen, wir müssen weg aus Wien“, erinnert sich Gertrude. Zwei Jahre lang sind die Eltern und ihre drei Kinder daraufhin auf der Flucht, quer durch Jugoslawien und Italien.
Immer ist da die Angst, zu den Nationalsozialisten abgeschoben zu werden. Die Eltern versuchen trotzdem stets, ihren Kindern Geborgenheit zu geben: „Sogar in der Polizeistation in Ljubljana“, erzählt Gertrude, „dort waren wir einmal eingesperrt.
Mein Vater hat in die Tischplatte im Arrestraum mit dem Taschenmesser ein Spielfeld eingeritzt. Meine Mutter hat Knöpfe von unserer Kleidung abgeschnitten. So konnten wir während des Wartens Mühle spielen.“
Für ein Jahr findet die Familie Unterschlupf in der Nähe von Ljubljana. Danach leben Eltern und Kinder „frei interniert“ unweit des Gardasees.
Gertrude: „Mein Vater konnte als Tischler arbeiten und wir hatten eine Wohnung, durften aber den Ort nicht verlassen.“
1943 marschiert auch dort das deutsche Militär ein. Kurz darauf endet die Familiengeschichte. Eltern und Kinder werden nach Auschwitz gebracht und dort sofort getrennt.
„Als ich erfahren habe, dass meine Mutter und meine Brüder vergast worden sind, bin ich zwei Tage lang reglos in der Baracke gelegen“, sagt Gertrude.
16 Jahre alt ist sie damals. Lange hofft sie, dass ihr Vater noch lebt: „Erst nach dem Krieg habe ich erfahren, dass er vermutlich beim Transport in ein anderes Lager umgebracht worden ist.“
Gertrude überlebt sieben Monate in Auschwitz, verrichtet danach Zwangsarbeit in einer Lampenfabrik, in einem Salzbergwerk und baut Panzergräben in Hamburg: „Ich war keine Heldin. Ich habe nur noch Gleichgültigkeit empfunden.“
Eines hat sie nie verloren: „Meine Menschenwürde. Das habe ich mir geschworen.“
Über Dänemark und Schweden gelangt Gertrude schließlich nach dem Krieg zurück nach Wien.
Erst fast dreißig Jahre nach Kriegsende spricht sie mit einer Geschichte-Studentin erstmals über ihr Schicksal: „Ich habe tagelang geweint. Nach wie vor kann ich nicht mit jedem darüber reden. Es tut immer noch genauso weh. Aber ich bin ruhiger geworden.“
Die Sendung „Die Einzige, die überlebt hat“ von Marlene Groihofer können Sie am
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