Die Briten hatten am Donnerstag, 23. Juni 2016 mit 51,9 Prozent klar für einen EU-Austritt gestimmt.
Die Briten hatten am Donnerstag, 23. Juni 2016 mit 51,9 Prozent klar für einen EU-Austritt gestimmt.
Pro-Brexit-Argumente besonders zum Thema Migration "hatten nichts mit den tatsächlichen Fakten zu tun.“
Der Vorsitzende der Konferenz Europäischer Kirchen (CEC/KEK), Bischof Christopher Hill von Guildford in Südengland, bedauert das Ergebnis des Referendums. Viele für die Abstimmung entscheidende Behauptungen, besonders zum Thema Migration, hätten nichts mit den "tatsächlichen" Fakten zu tun, sagte der Vertreter der Church of England (Anglikaner) am Freitag, 24. Juni 2016 in London. Der Ton während der Kampagne sei oft "hysterisch" gewesen.
Dem KEK-Vorsitzenden zufolge brauchen Europa und Großbritannien nun dringend eine ernsthafte Debatte über die Zukunft. Hill hoffe, dass die Kirchen eine Vision von Europa wiederbeleben könnten, die vom christlichen Verständnis der Gesellschaft geprägt sei. Nicht "nur" Wirtschaft, sondern das Wohl für die gesamte Gesellschaft solle dabei im Vordergrund stehen.
Der Bischof betonte, Großbritanniens Kirchen blieben Mitglieder der KEK. Die Organisation müsse nun zu einer vernünftigen Debatte mit den Kirchen in Europa beitragen, bei der besonders die Mitglieder in Süd- und Osteuropa miteinbezogen würden. - KEK ist ein Verbund von 114 orthodoxen, protestantischen, anglikanischen und altkatholischen Kirchen aus Europa. Die katholische Kirche unterhält ein EU-Büro in Brüssel.
Nicht äußern wollte sich vorerst der Dachverband der katholischen EU-Bischöfe, den die Vertreter Englands, Schottlands und Wales' jetzt verlassen werden müssen. Seitens der Brüsseler EU-Bischofskommission COMECE hieß es auf "Kathpress"-Anfrage, man werde das Referendum zunächst analysieren und sich nicht vor Anfang kommender Woche äußern.
Das britische Votum für den EU-Austritt könnte dazu beitragen, dass die EU eines Tages zu einer "radikalen Umkehr" findet und einen Neustart wagt: Zu dieser Einschätzung kommt der in London wirkende Jesuit Robert Deinhammer am Freitag im Interview mit "Kathpress". Europas Institutionen bräuchten dringend eine tiefgreifende Reform und einen Wandel im Denken, der aber bislang unerreichbar weit entfernt schien, so der österreichische Religionsphilosoph und Jurist. Wenn nun durch den "Brexit" europaweit EU-Skeptiker Aufwind bekommen und Dominoeffekte drohten, könne sich dieser Prozess beschleunigen.
Die Entscheidung für den EU-Austritt sei vor allem eine Absage an die politische und mediale Elite Großbritanniens und ihrer "Realitätsverweigerung" gewesen, befand Deinhammer. Die aktuellen Migrationsströme und der Umgang der EU mit ihnen hätten für die Bevölkerung eindeutig den Ausschlag gegeben. "Die Strategie der EU-Befürworter, Ängste vor Brexit-Folgen zu schüren, war für die Menschen zu durchsichtig, weshalb dies nicht aufgegangen ist."
Das Vereinigten Königreich sei nun gespalten und künftig "sehr schwer zu einen", wie das regionale und demografisch stark unterschiedliche Stimmverhalten gezeigt habe. Neue Spannungen etwa mit Schottland seien realistisch, so Deinhammers Einschätzung. Auch die Konservative Partei sei entzweit, einzig Brexit-Befürworter Boris Johnson gehe gestärkt hervor und könne nun vielleicht sogar den Sprung an die Regierungsspitze schaffen.
Die Kirchen hatten sich im Vorfeld mit eindeutigen Wahlempfehlungen weitgehend zurückgehalten, was Deinhammer positiv bewertete: "Viele Bürger kamen sich manipuliert vor und es herrschte weitgehend der Eindruck, man glaube den Politikern nicht mehr. Hätten man sich in dieser Situation ebenfalls mit Appellen eingeschaltet, wäre dies kontraproduktiv gewesen", so der Jesuit.
Dennoch habe es auf Kirchenseite auch Versäumnisse gegeben. Deinhammer: "Die gesamte Kampagne für und gegen den Brexit war von ökonomischen Eigeninteressen bestimmt. Die Kirchen hätten zu einer inhaltlichen Diskussion beitragen können, bei der auch die politische und religiöse Dimension der EU behandelt wird." Schließlich seien dem Philosophen zufolge die EU-Gründungsväter vor allem christlich motiviert gewesen. Im Zuge der Säkularisierung und des EU-Fokus auf neoliberal orientierte Ökonomie seien aber jegliche religiöse und zunehmend auch die politisch-geistige Komponente der Gemeinschaft verloren gegangen.
Das Ergebnis des EU-Referendums in Großbritannien ist nicht zuletzt auch eine Folge von weitgehend "zahnlosen Identitäts-Debatten" über die "Seele Europas" in den vergangenen Jahren. Das hat der Innsbrucker Theologe Jozef Niewiadomski im "Kathpress"-Interview unterstrichen. Gewiss sei die Frage der wirtschaftlichen Situation das Hauptargument im Wahlkampf der vergangenen Wochen gewesen; es sei jedoch bezeichnend, dass die Frage der europäischen Solidarunion, die auf einer gemeinsamen Idee aufbaue, keine Rolle gespielt habe. "Gerade auch die Kirchen, die diese Idee in den letzten Jahren mit dem Begriff der 'Seele Europas' eingemahnt und in die Diskussion gebracht haben, wurden zuletzt immer nur belächelt." Dies räche sich jetzt, zeigte sich der Dogmatiker überzeugt.
Stets habe in der Europäischen Union der "Vorrang der wirtschaftlichen Mechanismen" gegolten; man habe sich damit "darüber hinweggeschwindelt, keine inhaltliche Diskussion führen zu wollen", so Niewiadomski. Diese Diskussion müsse jetzt jedoch dringend geführt werden, wobei dies wiederum eine Chance für die Kirchen sei, "ihre Vorstellungen eines gemeinsamen Friedensprojekts auf der Basis des biblischen Monotheismus" einzubringen. Schließlich sei der biblische Monotheismus "durchaus pluralismusfähig", insofern er viele kulturelle Lebensformen unter dem einenden Dach der Idee etwa der Menschenwürde und der Menschenrechte befürwortet. Es sei bedauerlich, sagte Niewiadomski, dass es "weder im Alltagsdiskurs noch auf akademischer Ebene gelungen ist, die Idee einer gemeinsamen europäischen Seele zu vermitteln".
Was die wirtschaftliche Debatte angeht, so habe schon die jüngste Parlamentswahl in Polen im vergangenen Oktober, aus der die nationalkonservative PiS-Partei als Sieger hervorging, gezeigt, dass es die nationalistischen, Europa-feindlichen Kräfte deutlich besser verstanden haben, ihre Wähler zu mobilisieren, sagte Niewiadomski. Und auch diese Parallele gebe es zwischen Polen und dem britischen Referendum: beide Wahlen seien durch die Spaltung zwischen den eher urbanen Nutznießern der europäischen Einheit und den "ökonomischen Verlierern" insbesondere in ländlicheren, strukturschwachen Gebieten entschieden worden. "Tatsächlich hat Europa diesen Menschen, die sich als Verlierer betrachten, nie eine Perspektive geboten, auch keine Partizipation." Dieser Frust habe sich nun - einmal mehr - in Richtung Brüssel entladen, so der Theologe.
Konferenz Europäischer Kirchen (CEC/KEK):
www.ceceurope.org