Die Idee, ich hätte mir alles verdient, stimmt nicht. Es gibt immer Dinge, die ich unverdient bekommen habe, und seien es nur meine Talente.
Die Idee, ich hätte mir alles verdient, stimmt nicht. Es gibt immer Dinge, die ich unverdient bekommen habe, und seien es nur meine Talente.
Soziale Gerechtigkeit ist eine wichtige Voraussetzung für das friedliche
Zusammenleben aller Nationen. Daran erinnert die UNO alljährlich am 20. Februar. Der Auftrag zu sozialer Gerechtigkeit findet sich auch in der Bibel, sagt Moraltheologe Gunter Prüller-Jagenteufel.
Der Unterschied zwischen Arm und Reich wird weltweit immer größer. „Wenn ein Generaldirektor heute 300-mal so viel verdient wie der Durchschnittsverdiener in seinem Konzern, muss man fragen, ob jemand überhaupt 300-mal mehr leisten kann“, meint der Wiener Moraltheologe Gunter Prüller-Jagenteufel. Diese Diskrepanz nennt er „obszön“.
SONNTAG: Unsere Gesellschaft funktioniert zunehmend nach dem Leistungsprinzip. Wo bleibt da die soziale Gerechtigkeit?
Gunter Prüller-Jagenteufel: Leistungsgerechtigkeit ist relativ leicht zu handhaben: Soviel hast du gearbeitet, soviel bekommst du dafür. In einer liberalen Gesellschaft und vor allem im heutigen Neoliberalismus hat man oft das Gefühl, das wäre die einzige Gerechtigkeit, die es gibt. Wer nichts leistet, wird nicht mehr wahrgenommen.
Es wird auch die Bibel immer verkürzt zitiert: „Wer nichts arbeitet, soll auch nicht essen.“ Richtig heißt es: „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen“. Das ist etwas ganz anderes. Es gibt Menschen, die arbeiten wollen, aber nicht können.
Sozial gerecht zu handeln bedeutet letztendlich, alle Menschen aufgrund ihrer Bedürftigkeit wahrzunehmen und nicht nur aufgrund ihrer Leistung. Neben der Leistungsgerechtigkeit gibt es also die Bedürfnisgerechtigkeit.
Mit unserem Blick auf reine Leistungsgerechtigkeit verlieren wir aus den Augen, dass ein friedliches Zusammenleben nur dann möglich ist, wenn alle, die in einem Gebiet leben, so halbwegs gut über die Runden kommen und wenn die Schere zwischen denen, die viel haben, und denen, die wenig haben, nicht unverhältnismäßig weit aufgeht. Es ist also gewissermaßen auch im Eigeninteresse, dass wir hier keinen zu großen Graben aufgehen lassen.
Hat das Christentum den Auftrag, soziale Gerechtigkeit herzustellen?
Gunter Prüller-Jagenteufel: Der Auftrag ist selbstverständlich da, das hat die Kirche auch immer gewusst. Im Alten, aber auch im Neuen Testament steht, was für die Armen alles zu tun ist und wo auch Kommunen und Städte in die Pflicht genommen werden, für die Armen zu sorgen.
In der ersten Sozialenzyklika (1891) schreibt Papst Leo XIII. über „rerum novarum“ – die neuen Zustände in der Welt – und bringt genau diese Perspektive noch einmal ein: Dass jeder Mensch das Recht auf ein gutes Leben hat, zunächst einmal unabhängig davon, was er leisten kann. Natürlich hat jeder die Pflicht zu leisten, was er kann. Aber die Würde als Mensch sagt auch, dass die Gesellschaft so organisiert werden muss, dass jeder Mensch genug zum Leben hat.
Welche Kriterien für soziale Gerechtigkeit gibt es?
Gunter Prüller-Jagenteufel: Ein Kriterium ist die Schere zwischen den Reichsten und den Ärmsten. Da gibt es einen Graben, der ist schlicht obszön und das muss man dann auch beim Namen nennen. Papst Johannes Paul II. und auch Benedikt XVI. haben das immer wieder getan, Papst Franziskus sagt es jetzt so, dass es auch Beachtung findet.
Ein weiteres Kriterium ist die „Option für die Armen“, die Franziskus immer wieder im Mund führt und die man schon in den großen Sozialenzykliken von Johannes Paul II. findet. Es bedeutet, dass ich immer schaue, wie es den schlechtest Gestellten in einer Gesellschaft geht. Wie wirken sich politische Maßnahmen auf jene aus, die ganz unten stehen? Helfen sie ihnen weiter nach oben?
Ist soziale Gerechtigkeit eine Aufgabe der Politik oder des Einzelnen?
Gunter Prüller-Jagenteufel: Die einen sagen, es läuft alles über den Einzelnen, die anderen sagen, es läuft über die politische Organisation. Beides greift zu kurz, aber auf beides kommt es an, das hat die kirchliche Lehre von Anfang an gesagt.
Das heißt nicht, dass jeder beides machen muss, aber jeder muss beides im Blick haben. Es bedeutet, mich persönlich zur Verfügung zu stellen für andere, die Not leiden – über professionelle Hilfsdienste, indem ich Geld spende oder mich selbst einbringe, Nachbarschaftshilfe organisiere, bei der Suppenküche meiner Pfarre aushelfe usw.
Ich trage aber auch politische Verantwortung, auch wenn ich kein Politiker bin. Ich muss nach meinem christlichen Gewissen eine Partei wählen, von der ich weiß, dass sie die christlichen Ideale vertritt. Keine Partei vertritt alle christlichen Ideale gleichermaßen, ich muss also abwägen: Was sind die brennendsten Probleme der Gesellschaft?
Eine Partei, die jene, die in der Gesellschaft unten stehen, nicht fördert, sondern zu Sündenböcken macht und dadurch ausschließt, ist für Christen einfach nicht wählbar. Wenn Flüchtlinge, die in Not geraten sind, zu uns kommen und eine Partei sagt, die lassen wir nicht rein, dann ist das für Christen ein absolutes No-go.
Es ist eine politische Frage, wie wir das alles organisieren können, das ist nicht einfach. Aber die Menschen auszuschließen und zu sagen, darum müssen wir uns nicht kümmern, die nützen uns nichts, ist eine rein egoistische Einstellung, die tatsächlich eine Todsünde darstellt.
Wie sieht eine sozial gerechte Gesellschaft aus?
Gunter Prüller-Jagenteufel: Gerechtigkeit wäre dann hergestellt, wenn alle Menschen tatsächlich entsprechend ihren Bedürfnissen und ihren Fähigkeiten an den gemeinsamen Gütern der Erde beteiligt sind. Diesen Paradieseszustand können wir als Menschen nicht herstellen.
Grundsatz muss bleiben, was schon der heilige Thomas von Aquin gesagt hat: Was Gott geschaffen hat, ist für alle Menschen da. Ich habe überhaupt kein Recht, Dinge nur für mich zu behalten. Die Idee, ich hätte mir alles verdient, stimmt nicht. Es gibt immer Dinge, die ich unverdient bekommen habe, und seien es nur meine Talente.
Soziale Gerechtigkeit bedeutet, auf eine Gesellschaft hinzuarbeiten, wo jeder gibt und nimmt und beides mit Freude und gutem Gewissen.
Das hört sich sozialromantisch an...
Gunter Prüller-Jagenteufel: Das ist es auch, aber das bedeutet nicht, dass es falsch ist, sondern daraufhin unterwegs zu sein. Gerechtigkeit ist ein Ideal, das uns eine Richtung vorgibt. Einen Berg kann man auch nicht in der Luftlinie besteigen, sondern man versucht, den nächsten Schritt in die richtige Richtung zu machen. Dabei sind wir aufeinander angewiesen, weil keiner kann das selbst. Das Ideal lesen wir im Evangelium, aber wie wir uns diesem Ideal annähern können, das müssen wir Tag für Tag neu lernen. Soziale Gerechtigkeit zu erarbeiten, ist ein wahnsinnig kompliziertes Gebilde.
Aber ich warne davor, das Ganze abzutun und zu sagen, das kann sowieso niemand leisten. Meine große Sorge ist, dass gerade, weil es unübersichtlich ist, sich jene Lösungen durchsetzen, die uns bequem erscheinen. So gibt es zum Beispiel immer noch Menschen, die sagen, globale Erwärmung existiere gar nicht. Der Umweltschutz ist eine massive Frage der sozialen Gerechtigkeit, weil die Ärmsten immer zuerst unter die Räder kommen.
Für wen bin ich verantwortlich?
Gunter Prüller-Jagenteufel: Natürlich nicht für alle, das kann ich gar nicht. Aber es gibt niemanden, für den ich von vornherein nicht verantwortlich bin.
Wer immer meinen Weg kreuzt, kann der Mensch werden, für den ich mich verantwortlich machen muss. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ist für mich eine sehr zentrale Stelle. Der Überfallene und der Samariter haben zunächst nichts miteinander zu tun, aber indem er da liegt und ich vorbeigehe, wird er zu einem Menschen, für den ich verantwortlich bin.
2007 haben die Vereinten Nationen den 20. Februar zum Welttag der sozialen Gerechtigkeit ausgerufen.
Der Gedanke, der dahinter steht: Soziale Gerechtigkeit ist die Grundlage für ein friedvolles und erfolgreiches Zusammenleben innerhalb einer Nation, aber auch der Nationen untereinander und jeder Mensch kann seinen Beitrag zu einer sozial gerechteren Welt leisten.
Eine sozial gerechte Gesellschaft darf etwa keinerlei Benachteiligungen zulassen, die aufgrund des Geschlechts, des Alters, der ethnischen Zugehörigkeit, der Religion, der Kultur oder einer Behinderung passieren. Sie soll zudem auch gezielt Arbeitslosigkeit bekämpfen und die Verarmung der Gesellschaft verhindern.
Das alles genauso auf nationaler Ebene, wie auch mit Blick auf die voranschreitende Globalisierung.
In Österreich setzen sich zahlreiche Organisationen für die Anliegen der sozialen Gerechtigkeit ein. Stellvetretend seien hier – aus dem Bereich der Katholischen Kirche – nur drei Beispiele genannt:
Die ksoe ist eine gesamtösterreichische Einrichtung der katholischen Kirche, die sich der Erforschung und Verbreitung der katholischen Soziallehre sowie der Förderung ihrer Anwendung widmet.
www.ksoe.at
Jugend Eine Welt – Don Bosco Aktion Österreich ist ein internationales Hilfswerk. Der Zweck der unabhängigen Nicht-Regierungs-Organisation liegt in nationaler und internationaler Jugendhilfe sowie nachhaltiger Entwicklungszusammenarbeit. www.jugendeinewelt.at
Der Gründer der Salvatorianer, Pater Franziskus Jordan, wollte ganz konkret der Not der Menschen begegnen. Die Salvatorianer solidarisieren sich mit den Armen und Ausgegrenzten und setzen sich für persönliche Entwicklung, Familienleben, Gesundheit und Bildung weltweit ein. Dabei wird niemand ausgeschlossen – keine Kultur, keine Religion und keine soziale Schicht. Mit diversen Projekten wird der Schutz des Lebens gefördert und gegen die Missachtung der Menschenwürde angekämpft. www.salvatorianer.at
Der Interviewpartner
Gunter Prüller-Jagenteufel ist Moraltheologe und lehrt an der Universität Wien.
weitere Informationen zu
E-Mail-Adresse: redaktion@dersonntag.at